Rückzug der US-Soldaten noch in diesem Jahr?

In den USA wachsen die Zweifel, dass die Wahlen am Sonntag den Irak stabilisieren könnten. Kriegsgegner warnen vor zu schnellem Abzug

WASHINGTON taz ■ Der Countdown zu den Wahlen im Irak läuft. Der Urnengang am kommenden Sonntag wird, so verkündet die US-Regierung, die Weichen für einen stabilen, demokratischen und einheitlichen Irak stellen. Während sich das Weiße Haus weiterhin zuversichtlich gibt, verebben jedoch auch viele einst hoffnungsvolle Stimmen außerhalb der Regierung.

Als vor zwei Wochen Brent Scrowcroft, Sicherheitsberater von Bush senior, sagte, er sei „pessimistisch“ was einen friedlichen und demokratischen Irak betreffe, war dies wie ein Fanal. Die Wahlen würden nicht zum erhofften Wendepunkt, sondern die ethnischen und religiösen Konflikte verschärfen, besonders den zwischen Sunniten und Schiiten. Ein „Abgleiten in den Bürgerkrieg“ sei nicht auszuschließen.

Viele Nahostkenner sind mittlerweile der Ansicht, dass die Wahlen im besten Falle eine schiitische Theokratie hervorbringen werden, die enge Beziehungen zum Iran suchen könnte – eine Ironie der Geschichte angesichts der feindseligen Haltung der US-Regierung gegenüber Teheran. „Wir haben ein massives Problem“, gesteht Geoffrey Kemp ein, der Ronald Reagan in Sicherheitsfragen beriet. „Die Frage ist, ob unsere Sache bereits völlig verloren ist.“

Die Antwort darauf hängt maßgeblich davon ab, wie man in den USA die Anwesenheit der eigenen Streitkräfte im Irak einschätzt. Gießen sie nur noch Öl ins Feuer oder können sie doch noch eine konstruktive Rolle übernehmen? Um das Land vor einem Bürgerkrieg zu bewahren, ist Scrowcroft überzeugt, müsste die US-Besatzung an UN- oder Nato-Truppen übergeben werden. Die Präsenz von US-Soldaten sei nur noch kontraproduktiv.

So wird der Ruf nach einem Abzug der US-Streitkräfte, anfangs vor allem eine Forderung der Friedensbewegung, immer lauter. Doch selbst Kriegsgegner meinen auf einmal, die USA könnten sich nicht so einfach davonstehlen. Aktivistin Naomi Klein hält die Porzellanladen-Philosophie von Colin Powell („You break it, you own it“) für teilweise richtig. „Wir können dem Irak nicht einfach den Rücken kehren“, sagt sie. Bush müsse beim Wort genommen werden und sein Versprechen, den Irak zu demokratisieren, einzulösen. Doch wie?

Einen Fünf-Punkte-Plan legt Erik Leaver in Foreign Policy In Focus vor. Die USA sollten eine Feuerpause erklären und militärische Offensiven einstellen. Die Zahl der US-Truppen in den wichtigsten Städten sollte reduziert, stattdessen die Grenze gesichert werden, um das Einsickern ausländischer Guerilla-Kämpfer zu verhindern.

Vielleicht liegen die Pläne über einen Abzugsbeginn noch in diesem Jahr im Pentagon längst in der Schublade. Ende Oktober signalisierte Generalleutnant James Conway, Kommandeur der Marineinfanteristen im Irak, dass es nach den Wahlen eine Verringerung der Streitkräfte geben werde, „nicht weil wir es wollen, sondern weil die Iraker dies wünschen“. Solche Äußerungen nähren in Washington die Spekulationen, Bush hoffe insgeheim, die neue irakische Führung werde die Amerikaner um den Abzug bitten. Dies böte ihm die Chance, sein Gesicht zu wahren.

Vor diesem Schritt warnt Noah Feldman, Professor der New York University und ehemaliger Berater der US-Übergangsverwaltung im Irak. Ein voreiliger Abzug wäre katastrophal, sagt er. Der wesentliche Grund für Spannungen unter den Volksgruppen sei, dass praktisch kein Staat mit funktionierenden Institutionen existiere. Die USA seien verpflichtet zu helfen, diese aufzubauen. „Der Punkt, dass die US-Präsenz die Situation nur noch verschlechtern würde, ist noch nicht erreicht.“ MICHAEL STRECK