Alice in Essen-Katernberg

Die kolumbianische Künstlerin Laura Ribero fotografiert Migrantinnen in Essen-Katernberg. In ein neues und fremdes Land aufzubrechen ist immer eine Suche nach dem Wunderland, sagt sie

„Frauen verlieren immer viel mehr, wenn sie ihr Land verlassen“

VON KLAUS JANSEN

Zwischen dicken weißen Ytong-Steinen quillt Putz hervor, der Zugang in die verlassene Bergarbeiterwohnung ist zugemauert. Auf der Fußmatte stehen Schuhe, etwa ein Dutzend Paar. Laura Ribero hat die Szene fotografiert. „Die Schuhe stehen für die vielen Wege, die hinein führen können“, sagt sie. Hinein in ein neues Land. Essen-Katernberg ist das Miniaturland, dass sich Laura Ribero für ihre Arbeit ausgesucht hat. Die 25-jährige Kolumbianerin fotografiert Migration, ihre Symbole, ihre Architektur, die Menschen. „Es ist ein bisschen wie bei Alice im Wunderland. Die Menschen träumen von einer perfekten und neuen Welt und finden nicht hinein.“

Für drei Monate wohnt Ribero in Essen-Katernberg – als Stipendiatin im ehemaligen Stellwerk auf der Zeche Zollverein. Im dritten Stock des Turms, von dem früher die Weichen der mittlerweile von Unkraut überwucherten Gleisanlage auf dem Zechengelände gerichtet wurden, hat die Fotografin ihr Atelier eingerichtet. Durch Glasfenster geht der Blick über die Zollverein-Brache, dahinter liegt die Gelsenkirchener Trabrennbahn, Symbol des alten Ruhrgebiets. Zur anderen Seite blickt Ribero auf die silberne Spitze des Minaretts der Moschee an der Schalker Straße. Männerwelten, beides.

Vor allem die weiblichen Migranten sind es aber, die Riberos Bilder prägen. „Frauen verlieren viel mehr, wenn sie ihr Land verlassen. Männer integrieren sich über Arbeit, Frauen müssen den Haushalt zusammenhalten und oft verbieten ihnen ihre Ehemänner sogar, die Sprache zu lernen“, sagt Ribero.

Es sind stille Fotos, die sie gemacht hat, und die sie ab dem 29. Januar in einem ausgeräumten Ladenlokal in Essen-Stoppenberg erstmals präsentiert. Die Personen wirken wie eingefroren, die Gebäude verwunschen. Ein kleines Mädchen mit dem Namen Alicia hat sie dazu gebracht, Migration mit Motiven aus Lewis Carrols Alice im Wunderland begreifbar zu machen: Türkinnen mit einem kleinen goldenen Schlüssel in der Hand, mit dem die verschlossenen Türen zum Wunderland geöffnet werden sollen. Afrikanerinnen, die auf den Bahngleisen Tee trinken. „Alice will Tee trinken, und ist nicht eingeladen. Auch viele Deutsche wollen, dass Migranten nur für kurze Zeit bleiben.“

Riberos Blick öffnet Perspektiven – weil es ein Blick von außen ist. Vor vier Jahren verließ sie ihre Heimatstadt Bogotá, ging zum Studium nach Barcelona. Dort entlarvte sie am Set von Telenovela-Produktionen mit inszenierten Bildern das klassische südamerikanische Seifenoper-Märchen: Putzfrauen in reichen Häusern, die sich in reiche Männer verlieben – Ribero lässt auch sich selbst mit Schrubber, Lappen und gesenktem Kopf abbilden. „Dieses Bild reflektiert, wie sich viele Latinos sehen: Ganz unten“, sagt sie.

Nun Katernberg, ehemaliges Arbeiterviertel, das Gegenstück zu Telenovela – aber für viele noch immer das Wunderland. Eines des Bilder Riberos zeigt eine junge Araberin, sehnsüchtig aufblickend aus einem Stapel von Spielkarten. Ribero darf es nicht veröffentlichen – der Ehemann des Modells tobte, weil Glücksspiel im Islam verboten ist. Kann man so im Wunderland ankommen? Nur, wenn man sich nicht klein macht, nur, wenn man festgefügte Rollenbilder überwindet, glaubt Ribero. „Natürlich müssen sich die Deutschen öffnen. Aber viele Migranten müssen lernen, dass sie ihre Gewohnheiten zum Teil ablegen müssen. Es geht nicht, dass Frauen keine eigene Meinung haben dürfen.“

29.1.-6.2, Essen-Stoppenberg, Essener Straße 8