Wärme aus der Pampe

BIOGAS Das niedersächsische Jühnde ist unabhängig vom Energiemarkt

„Im Dorf ist es interessanter geworden, und man kennt sich jetzt besser“, zählt der Landwirt Reinhard von Werder die Vorteile des Biokraftwerks mit angeschlossenem Nahwärmenetz auf. „Anderswo reden die Leute übers Wetter, bei uns über die gemeinsame Anlage“

AUS JÜHNDE ANNETTE JENSEN

Jörg Weitemeier steigt die Treppe hinauf, um durch ein Bullauge ins Innere des riesigen Blechkessels mit Kuppeldach zu schauen. „Man muss das da drinnen als lebendes Objekt betrachten“, sagt der 49-Jährige. Das „lebende Objekt“ ist eine blubbernde braune Pampe. Stündlich wird sie mit ein bis zwei Tonnen Silage aus Gras, Mais- und Getreidepflanzen sowie einem Schuss Gülle aufgefüllt und ab und zu umgerührt. „Der Fermenter darf nicht überfüttert werden und nicht verhungern“, erklärt der Betriebsleiter eifrig. Früher war er Bauer, dann Zahntechniker, bis er vor vier Jahren dank des neuen Biokraftwerks wieder einen Job in seinem Heimatdorf Jühnde gefunden hat.

Mithilfe mehrerer Computer achtet Weitemeier darauf, dass sich die Bakterien in der luftdicht abgeschlossenen, körperwarmen Suppe wohlfühlen. Das Methan, das sie produzieren, wandert durch ein Rohr in einen containergroßen Kasten, der Strom und Wärme erzeugt. Zusammen mit einem Holzhackschnitzelofen sorgt das kleine Blockheizkraftwerk dafür, dass sich das 760-Einwohner-Dorf in der Nähe von Göttingen fast vollständig vom Weltenergiemarkt abkoppeln konnte.

„Durch die Energie, die wir von hier durchs Nahwärmenetz runter ins Dorf schicken, sparen wir 300.000 Liter Heizöl im Jahr“, sagt der Sprecher der Bioenergiedorfgenossenschaft Eckhard Fangmeier und weist mit einer Handbewegung in Richtung des romantischen Orts in der Talsenke. Dort haben drei Viertel der Haushalte ihre alte Heizung und die Tanks entsorgt und nutzen den freien Keller nun als Wellnessoase, Vorrats- oder Gästezimmer. Die Kosten für die Abnahmestation, durch die das 80 Grad heiße Wasser in die Häuser kommt, haben sich dank des hohen Ölpreises schon drei Jahre nach Projektstart amortisiert. Jetzt erspart die Gemeinschaftsanlage jedem angeschlossenen Haushalt mehrere hundert Euro Heizkosten im Jahr.

Manfred Menke sitzt in der Holzhütte, in der die Verwaltungszentrale des Kraftwerks untergebracht ist. Das Telefon klingelt oft: In Marrakesch wollen Leute ein Bioenergiezentrum aufbauen, eine Wissenschaftlergruppe kündigt sich an. Vor dem Mann mit dem Meckihaarschnitt liegen Stapel von Anfragen: Sogar in Korea, den USA und Australien ist Jühnde inzwischen ein Begriff. 7.000 Besucher pilgern jährlich in das erste deutsche Bioenergiedorf. Begeistert von dem Interesse wollen Menke und seine Kollegen nun ein Informations- und Seminarzentrum aufbauen.

Menke erinnert sich genau an den Abend, der sein Leben umkrempelte. Der Bürgermeister hatte eingeladen: Ein paar Professoren aus Göttingen wollten eine Idee vorstellen. „Ich hatte mir vorher keine Gedanken gemacht über unsere Energieversorgung. Die erschien mir völlig selbstverständlich“, berichtet der 56-Jährige. „Und dann haben die Leute uns den Schleier von den Augen weggezogen.“ Plötzlich erschien es als absurd, dass Erdöl aus fernen Gegenden nach Jühnde gebracht wurde, wo es doch im Dorf selbst genügend potenzielle Energie gab. Menke und eine ganze Reihe anderer Dörfler waren sofort von der Idee einer autarken Energieversorgung begeistert. Der Bürgermeister charterte einen Bus, und gemeinsam schaute man sich anderswo Holzhackschnitzelkraftwerke und Biogasanlagen an, schnupperte die Umgebungsluft und lauschte den Geräuschen der Reaktoren. Alles bestens, lautete das Urteil.

Auf Bierdeckeln bekundeten viele Jühnder spontan ihren Willen, sich gemeinsam in die Arbeit zu stürzen. Kurz darauf erklärten sich die Deutsche Bank und potenzielle Investoren bereit, die Anlage komplett zu bauen. „Aber wir wollten das selbst in der Hand behalten“, berichtet Altbürgermeister August Brandenburg. Arbeitsgruppen wurden eingerichtet, und plötzlich entdeckte das Dorf, wie viel Kompetenz es in den eigenen Reihen hat. Neben Handwerkern, Landwirten und Leuten mit betriebswirtschaftlichen Kenntnissen waren das auch Strippenzieher in der Politik sowie Wissenschaftler und Akademiker, die tagsüber nach Göttingen pendeln. Jetzt galt es, ausreichend viele Bürger zu überzeugen, denn das Nahwärmenetz ist ökonomisch nur dann rentabel, wenn im Durchschnitt alle 30 Meter ein Abnehmer sitzt. Zeitweise hockten Brandenburg und seine Mitstreiter jeden Abend an einem anderen Küchentisch und mussten sich mit den unterschiedlichsten Befürchtungen auseinandersetzen. „Manche Leute dachten, wir wollen die Gülle direkt durch ihre Heizkörper leiten“, erinnert sich der 78-Jährige schmunzelnd.

5,4 Millionen Euro hat die Jühnder Energiegenossenschaft investiert. Etwa ein Viertel stammt aus Fördergeldern für das Pilotprojekt, den Rest haben die Mitglieder aufgebracht. Das sind nicht nur knapp 150 Wärmekunden, sondern auch mehrere Bauern, die auf insgesamt knapp 20 Prozent von Jühndes Ackerflächen Pflanzen für den Gasreaktor anbauen. Einer von ihnen ist Reinhard von Werder. Er nennt gleich mehrere Vorteile für seinen Hof: Durch die Direktvermarktung und den langfristig vereinbarten Preis ist er unabhängiger von den Höhen und Tiefen des Weltmarkts. Zudem benötigt er weniger Pestizide, weil die Biogasanlage auch Unkraut schluckt und viele Pflanzen vor der Reife geerntet werden können, sodass Pilzbefall kaum ein Problem ist. Weil die Erntesaison länger dauert, kann er seine Maschinen besser auslasten. Und er bekommt die von ihm gelieferten Nährstoffe als Güllesubstrat zurück und kann sie als Dünger nutzen – ein Kreislauf eben. Und ein weiterer Vorteil fällt dem Landwirt ein: „Im Dorf ist es interessanter geworden und man kennt sich jetzt besser. Anderswo reden die Leute übers Wetter, bei uns über die gemeinsame Anlage.“