Nach dem Heimweh kam der Tod

Gestern jährte sich zum 60. Mal die Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee. Aus diesem Anlass diskutierten Schüler im Rahmen des Projektes „Demokratie leben und lernen“ mit Juristen über NS-Verbrechen im Landgericht

Bremen taz ■ Auf der Leinwand flimmert der Film „Das „Heimweh des Walerjan Wrobel“: Der 16-jährige Junge sitzt auf der Anklagebank im Saal 231 des Bremer Landgerichts. Wir schreiben das Jahr 1942. Das Urteil gegen den jungen Polen lautet: Todesstrafe. Sein Vergehen: Versuchte Brandstiftung in der Scheune des Bauern, der ihn als Zwangsarbeiter beschäftigte. Grund: Heimweh nach seinen Eltern und zwei Geschwistern im polnischen Falkow. Der Junge hatte gehofft, wegen der Brandstiftung nach Hause zurück geschickt zu werden. Straftatbestand: Verstoß gegen die „Volksschädlingsordnung“.

„Wir hatten die Idee, den Prozess unter heutigen Bedingungen mit Staatsanwalt, Richter und Verteidiger nachzuspielen, haben aber schnell gemerkt, dass das gar nicht vergleichbar ist“, erklärt gestern der Richter am Landgericht Peter Lüttringhaus den rund hundert Jugendlichen, die anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz ins Landgericht gekommen sind. Sie debattieren mit Richtern, Staatsanwälten und Advokaten über den Fall des hingerichteten Walerjan – und über Schuld.

Auf der Anklagebank, dort wo 1942 der junge Pole saß, hat heute Thimo Kausch Platz genommen. Er ist nur ein Jahr jünger als Walerjan während seines Prozesses. Thimo ist weder angeklagt, noch hat er etwas Unrechtmäßiges getan. Trotzdem fühlt er sich nicht ganz wohl in seiner Haut.

Das Schicksal des Jungen geht Thimo nahe. „Dass es genau hier passiert ist, macht mich als Bremer betroffen“, sagt der Zehntklässler und rutscht unruhig auf der Anklagebank hin und her. „Die Richter haben damals ganz klar etwas falsch gemacht. Walerjan zu verurteilen, wäre heute juristisch nicht möglich.“

Das sehen auch die Vertreter der Bremer Justiz so, die mit den Jugendlichen diskutieren. Die sind Teil des Netzwerkes der Bremer Schulen, die jährlich zur Erinnerung an die Reichspogromnacht die „Nacht der Jugend“ im Bremer Rathaus mit vorbereiten. Über das ganze Jahr sollen aber Veranstaltungen das politische Bewusstsein der Schüler schärfen, die aus verschiedenen Bremer Schulen kommen.

Zwar sei die Justiz heute nicht mit der NS-Gerichtsbarkeit zu vergleichen, dennoch gebe es auch in diesen Tagen noch Urteile, die das Recht beugten, sagt Rechtsanwältin Barbara Kopp. Sie verliest ein Urteil, in dem ein mutmaßlich 15-jähriger Palästinenser von einem deutschen Amtsgericht 2001 wegen Ladendiebstahls zu einer Bewährungsstrafe von zwei Monaten verurteilt wird. Das Gericht wendet das Erwachsenenstrafrecht an, weil es das Alter des Beschuldigten anzweifelt. „Dabei sieht man dem Angeklagten an, dass er jünger ist. Daran seht ihr, dass es auch heute noch wichtig ist, die Augen auf zu machen“, erklärt Barbara Kopp. In der Urteilsbegründung heißt es, der Diebstahl sei ein Einstiegsdelikt, eine Geldstrafe schwer zu vollstrecken.

Peter Lüttringhaus nennt das Urteil „beschämend, wenn auch nicht so krass wie das gegen Walerjan Wrobel“.

Und was passierte mit den Juristen, die den Jungen 1942 im Saal 231 zum Tode verurteilten?

Viele wurden nach Kriegsende versetzt und – wie Staatsanwalt und Richter in Walerjans Prozess – als Mitläufer eingestuft. Den Saal 231 des Bremer Landgerichts bezeichnet Landgerichtspräsident Wolfgang Goslasowski als das „architektonische schlechte Gewissen“ der Bremer Justiz.

Als Thimo Kausch von der Anklagebank aufsteht und den Saal verlässt, geht er gemächlich: Er hat noch eine Stunde Physik in der Gesamtschule Mitte. Walerjan ging 63 Jahre vorher gebückt in die Todeszelle. Kay Müller