BERNHARD GESSLER STETHOSKOP
: Was zählt, ist die Länge der Laborlatte

Diagnose per Labor? Auch mit normalen Werten kann der Patient nächste Woche tot sein

Herr Doktor, ich fühle mich irgendwie nicht gut, ich bin dauernd gereizt. Machen Sie einen Laborcheck!“ Die 20-jährige Abiturientin weiß genau, was sie will. „Bitte mit allen Laborwerten“, fordert sie, „damit ich weiß, was ich habe!“

Da ist sie wieder: Die Laborgläubigkeit, gegen die ich einen Don-Quichotte-artigen Kampf führe – um mich schließlich doch wieder in ihr zu verstricken. Vielleicht wird es mir irgendwann gelingen, meine PatientInnen von der Autowerkstatt-Erwartung „Rein – rauf – runter – raus“ beim Arztbesuch abzubringen. Aber noch scheint es nicht so weit zu sein.

Was das Problem ist? Ich könnte auf dem Laborschein 200 Werte zur Analyse ankreuzen und käme doch nicht zu einer wirklichen Diagnose. Oder krasser formuliert: Auch mit komplett normalem Labor kann ein Patient nächste Woche tot sein.

Hier beginnt der schwierige Teil: nämlich den PatientInnen zu vermitteln, dass diese Normwerte und Zahlen eben nur ein Teil der medizinischen Wahrheit sind. Und dass wir uns dieser Wahrheit – vorausgesetzt, dass es sie überhaupt gibt – allenfalls annähern können.

Im Studium wurde mir beigebracht, dass durch eine geschickte Erhebung der Krankengeschichte bis zu zwei Drittel der Diagnose getroffen werden könnten. Hinzu komme die körperliche Untersuchung. Neben den bildgebenden Verfahren wie Sonografie, Computertomografie und Kernspintomografie hat die Schulmedizin mit der Labordiagnostik ein starkes und verlockendes Instrument in der Hand. Und nicht nur sie: Die Länge der „Laborlatten“ mancher Alternativmediziner und Heilpraktiker muss den Vergleich mit den Unikliniken nicht scheuen. Das aber bedeutet: Selbst wenn ein alternativmedizinisch orientierter Patient die Schulmedizin verachtet – seine Laborgläubigkeit bleibt.

Also, was mache ich nun mit der Abiturientin und ihrer unspezifischen Gereiztheit? Ich befrage und untersuche sie ausführlich und finde: keinen krankhaften Befund! Mit wenig Überzeugung veranlasse ich ein paar Laboruntersuchungen. Auch hier durchgehend Normalwerte, bis auf einen deutlich erhöhten Entzündungswert. Beim Kontrolltermin wenige Tage später berichtet sie, dass es ihr wieder komplett gut gehe – nur: Jetzt mache sie sich ständig Sorgen wegen des erhöhten Laborwerts.

Schon sitzen wir beide in der Falle der Labormedizin, sind Jäger und Gejagte zugleich. Von jetzt an ist das Behandlungsziel nicht mehr das Wohlergehen der Patientin, sondern die Jagd nach einem Laborwert. Halali!

■ Der Autor ist Internist in Rastatt Foto: privat