: Weg vom Rande der Gesellschaft
Heute wird in Bulgarien die Dekade der Roma-Integration eröffnet. Programme in acht Ländern sollen die Situation der diskriminierten Minderheit verbessern
SOFIA taz ■ Wenn man im Sofioter Stadtviertel Fakulteta telefonisch ein Taxi bestellt, kann es passieren, dass man vergeblich darauf wartet. „Die kommen nie her“, erklärt eine Anwohnerin und zuckt mit den Schultern. „Oder die Restaurants, die Bestellungen normalerweise direkt vor die Haustür liefern – auch die würden nicht herfahren.“
Fakulteta ist eines der Wohnviertel der bulgarischen Hauptstadt, in dem fast nur Angehörige der Roma-Minderheit leben. Kaum ein Bulgare setzt seinen Fuß in eine solche Siedlung. „Ich gehe da nicht hin“, erklärt die Frau, die einen Kiosk am Rande des Stadtviertels betreibt. Beginnt nicht hier schon Fakulteta? Nein, das sei „da oben“, antwortet die Besitzerin und weist entschieden mit der Hand die langsam ansteigende Straße entlang. Zwischen der Roma-Siedlung und dem angrenzenden „bulgarischen“ Bezirk gibt es keine Mauer. Die Roma sind auch ohne sichtbare Grenze in ihrem Ghetto eingeschlossen.
Das Leben in extremer Armut und im gesellschaftlichen Abseits ist kennzeichnend für die Situation der Roma in Osteuropa. Die „Dekade der Roma-Integration“, die heute in der bulgarischen Hauptstadt Sofia feierlich eröffnet wird, hat sich das ambitionierte Ziel gesetzt, die Randexistenz der Minderheit zu beenden.
Die Initiative ist der erste Versuch der internationalen Gemeinschaft, die Lebensbedingungen der Roma in den Staaten Osteuropas zu verbessern. Regierungschefs aus Bulgarien, Rumänien, Serbien und Montenegro, Ungarn, Tschechien, Slowenien und der Slowakei nehmen an der Veranstaltung teil. Auch George Soros, Gründer des Open Society Institute, und James Wolfensohn, Präsident der Weltbank, sind unter den Gästen.
Unter den mehr als 130 Delegierten sind auch Vertreter von Roma-Organisationen, der Europäischen Union, der OSZE sowie des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP). Finanziert wird die Initiative zu großen Teilen von der Weltbank und vom Open Society Institute.
Die Teilnehmerstaaten haben sich dazu verpflichtet, in den Bereichen Bildung, Arbeit, Wohnen und Gesundheit die Integration der jeweiligen nationalen Roma-Minderheit voranzutreiben. Jede Länderdelegation stellt in Sofia ein Aktionsprogramm vor, das konkrete Maßnahmen und erreichbare Ziele beinhaltet. Jährliche Berichte und kontinuierliches Monitoring sollen die Einhaltung der selbst gesetzten Ziele sicherstellen.
Bulgariens Ministerpräsident Simeon Sakskoburggotski, der mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány offizieller Gastgeber der Veranstaltung ist, erklärte gegenüber Roma-Vertretern, dass die Dekade eine „gemeinsame Aufgabe“ sei. „Im Rahmen der Initiative hofft die Regierung, im Dialog mit den Gemeinden und mit Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und der direkten Beteiligung der Minderheit eine vollwertige Integration der Roma-Bevölkerung zu erreichen.“
Dass die Lage der Roma ein gesamteuropäisches Problem darstelle, darauf haben im vergangenen Jahrzehnt vor allem NGOs hingewiesen. Die Roma sind die zahlenmäßig größte Minderheit in Europa. Von den geschätzten sieben bis zehn Millionen Roma leben etwa 70 Prozent in den Staaten Mittel- und Osteuropas. Mit der Osterweiterung wurden viele von ihnen zu EU-Bürgern.
Ihre Lebensbedingungen haben sich dadurch nicht verbessert. Roma sind in den meisten europäischen Ländern die ärmste Bevölkerungsgruppe. Wachsender Analphabetismus und horrende Arbeitslosenraten von bis zu 100 Prozent in manchen Siedlungen sind noch immer traurige Realität. Ob der in den offiziellen Stellungnahmen propagierte politische Wille zur Lösung dieser massiven sozialen Probleme wirklich ausreicht, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. JUTTA SOMMERBAUER
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