„Das Zeug brannte so heiß, ich dachte, mir fliegt die Haut weg“

Heute vor 60 Jahren wurde Berlin durch alliierte Bomben großflächig zerstört. Rund 3.000 Menschen starben. In Kreuzberg sind bis heute Lücken zu sehen. Manfred Schulz erlebte den Angriff als Kind

VON PHILIPP DUDEK

Es war kurz vor zehn Uhr, als Manfred Schulz am 3. Februar 1945 aufwachte. Zusammen mit seiner Mutter wohnte der Neunjährige im Vorderhaus der Alexandrinenstraße 51 in Kreuzberg. Noch schien an diesem Samstagmorgen die Sonne von einem strahlend blauen Himmel. Zu diesem Zeitpunkt waren amerikanische Bomber schon seit fast zwei Stunden in der Luft. Ihr Ziel: Berlin. In etwas mehr als einer Stunde würden 2.300 Tonnen Spreng- und Brandbomben auf die Stadt fallen.

60 Jahre später stapft Manfred Schulz im Schnee durch die Straße seiner Kindheit. „Im Hinterhof stand die Firma Jünger und Gebhardt, die zu 4711 gehörte“, sagt er. Heute steht in dem Hof ein Kinderspielplatz, umringt von fünfstöckigen Neubauten. Eine Tafel an einer Durchfahrt erinnert an die Parfüm-Firma. Bis zu dem Bombenangriff 1945 wurden hier für die Seifen- und Parfümproduktion Fett und Alkohol gelagert. „Das Zeug brannte so heiß, dass ich dachte, mir fliegen gleich die Hautfetzen aus dem Gesicht“, sagt Schulz.

Um 10:40 Uhr war die fliegende Armada nur noch zwanzig Minuten von ihrem Einsatzort entfernt. Die rund 1.000 US-Bomber wurden von über 600 Jagdflugzeugen begleitet. Mit einer nennenswerten Luftabwehr mussten die Piloten drei Monate vor Kriegsende nicht mehr rechnen.

In Berlin gaben die Sirenen Vollalarm. „Meine Mutter hat mich angezogen. Das musste alles sehr schnell gehen“, sagt Schulz. „Ich hatte nicht einmal vernünftige Schuhe an. Danach sind wir in den Keller gegangen. Bis dahin war eigentlich noch alles Routine.“ In dem gut ausgebauten Luftschutzkeller saßen schon andere Hausbewohner aus der Alexandrinenstraße. Der Luftschutzwart schloss hinter den Schulzes die Kellertür.

„Es war keine Wolke am Himmel über der Stadt, als wir reinkamen“, erzählte später einer der US-Piloten einem Journalisten. „Wir haben die Bomben nur so reingegossen. Es war freie Schussbahn, und man konnte sein Ziel nicht verfehlen. Wenn man von einer Stadt in der Vergangenheit sprechen kann, ist es Berlin. Es wird noch Tage brennen.“

Die Menschen im Keller der Alexandrinenstraße hörten Einschläge in der Nachbarschaft. Druckwellen erschütterten das Viertel. „Jetzt sind wir dran“, dachte Manfred Schulz. Im Keller war es eng. Alle hatten Angst.

Die US-Piloten flogen ihren Angriff in drei großen Wellen. Die Bombardiere sollten die Gegend um das Reichsluftfahrtministerium, das Auswärtige Amt, die Reichskanzlei, das Gestapo-Hauptquartier, die Eisenbahnanlagen in Schöneberg und Tempelhof sowie den Anhalter, den Potsdamer und den Schlesischen Bahnhof ins Visier nehmen. Außerdem sollte das Zeitungsviertel rund um die Kochstraße getroffen werden. Hier hatten die Propaganda-Zeitungen der Nazis ihre Redaktions- und Verlagsbüros.

Schon die Piloten der zweiten Staffel konnten ihre Ziele kaum mehr erkennen, da der Rauch über dem Zielgebiet immer dichter wurde. Die letzten Gruppen steuerten nur noch nach Instrumenten und verteilten ihren Bombenteppich über den gesamten Innenstadtbereich. Nicht einmal eine Stunde dauerte der Angriff. Um kurz vor zwölf verließ der letzte Flieger den Berliner Luftraum. Am Boden waren knapp 3.000 Menschen tot.

Nach dem Ende der dritten Bombenwelle machte der Luftschutzwart aus der Alexandrinenstraße 51 einen Inspektionsgang. Zurück im Keller sagte er: „Frau Schulz, wenn Sie noch irgendetwas aus der Wohnung retten wollen, sollten Sie jetzt hinaufgehen, weil der Dachstuhl schon in Flammen steht.“ Als die Schulzes in ihrer Wohnung im dritten Stock des Hauses ankamen, waren die Zimmer zerstört. Geschirr lag auf dem Boden, Regale waren umgefallen, die Fensterscheiben zersplittert. Die Druckwellen der Bomben hatten von der Einrichtung nicht mehr viel übrig gelassen. „Der eigentliche Grund, warum wir noch mal hoch sind, war unser Kater Mulle. Der saß starr vor Schreck in der Küche“, erzählt Manfred Schulz. Seine Mutter griff sich den Kater, einen Koffer mit den wichtigsten Habseligkeiten sowie ihren Sohn und machte sich auf den Rückweg in den Keller.

„Aber die Brände waren schon so stark, dass wir das Haus verlassen mussten. Als wir rauskamen, war der Himmel schwarz“, erinnert sich Schulz. Er schaut in den Himmel über Berlin, aus dem heute dicke Schneeflocken fallen. Schulz steht vor einem Neubau in der Alexandrinenstraße. „Hier war unser Haus. Das Gebäude rechts davon war eingestürzt. Zusammen mit dem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag es quer über der Straße.“ Schulz deutet auf die Alexandrinenstraße, die an dieser Stelle höchstens fünf Meter breit ist. „Hier konnten wir eigentlich nicht mehr durch. Die Dachstühle der Häuser lagen auf dem Schuttberg und haben gebrannt. Hintenrum konnten wir auch nicht. Da stand Jünger und Gebhardt in Flammen.“

Im Westen Kreuzbergs wütete zu diesem Zeitpunkt ein Feuersturm. Die riesigen Brände sogen den Sauerstoff mit unvorstellbarer Geschwindigkeit aus den Straßen. Viele Menschen, die aus ihren einstürzenden Kellern flüchten wollten, erstickten auf der Straße. An einigen Stellen kochte der Asphalt. Weglaufen ging nicht.

Die Schulzes hatten nur eine Chance, der Katastophe zu entkommen: Sie mussten über den brennenden Schuttberg der Nebenhäuser flüchten. Der neunjährige Manfred weigerte sich. Er blieb regungslos vor den brennenden Dachstühlen stehen. Mitten im Chaos erschien plötzlich ein Mann um die dreißig. Der griff sich den Jungen und trug ihn durchs Feuer. Mutter Schulz rannte mit Kater Mulle hinterher. „Von selbst wäre ich keinen Meter gegangen“, sagt Schulz. „Den Mann habe ich danach nie wieder gesehen.“

Der Kreuzberger deutet auf die verschneite Stallschreiberstraße in Richtung Neukölln. „Wir sind zum Moritzplatz runtergelaufen. Auf der anderen Seite des Schuttberges sind wir relativ unproblematisch vorangekommen.“ Die US-Soldaten hatten ihren Bombenteppich zielgenau über Kreuzberg verteilt. Wie eine Brandschneise erschien die Prinzenstraße im Süden, der Moritzplatz und die Heinrich-Heine-Straße im Norden. Westlich davon lag die Stadt in Trümmern. Auf der Ostseite standen die meisten Häuser noch. Der Osten Kreuzbergs und Neukölln waren fast unzerstört. An diesem Tag war ein zweigeteiltes Kreuzberg entstanden. Im Westen finden sich bis heute brachliegende Grundstücke und zahlreiche Bürogebäude in Neubausiedlungen. Der Kreuzberger Kneipen-Kiez im Altbauviertel beginnt erst jenseits des Oranienplatzes.

Manfred Schulz lief mit seiner Mutter über den Kottbusser Damm nach Neukölln zum Haus seiner Großeltern. Das Haus stand noch, die Großeltern waren am Leben, Manfred Schulz und seine Mutter in Sicherheit. Am Nachmittag desselben Tages versuchte Mutter Schulz zusammen mit ihrem Vater und ihrem Sohn noch einmal in die Alexandrinenstraße zu gelangen. Den Koffer mit den Habseligkeiten hatte sie nicht mit über den brennenden Schuttberg genommen. Jetzt wollte sie ihn nachträglich holen.

„Was ich auf diesem Weg gesehen habe, war das Schlimmste, was ich je erleben sollte“, sagt Schulz. Er hat dem Neubau in der Alexandrinenstraße den Rücken gekehrt. Schulz hat seine Geschichte schon oft erzählt – vor Schulklassen, in Museen und vor seiner Familie. Er wirkt vollkommen unaufgeregt. Seine Hände zeichnen ruhige Gesten durch die Luft. „An der Ecke Ritterstraße Lobeckstraße“, sagt Schulz und deutet vage in die entprechende Richtung, „da lagen verbrannte Menschen. Es waren bestimmt über hundert. Zuerst dachte ich, das wären Kinder, weil die so klein waren.“ Schulz hält seine Hände dabei ungefähr einen Meter auseinander. „Aber die sind in der Hitze einfach geschrumpft.“

Die Bomben vom 3. Februar 1945 kamen nicht aus heiterem Himmel über Berlin. Der Luftkrieg der Alliierten gegen deutsche Städte hatte eine Vorgeschichte: Lange bevor die Flächenbombardements begannen, hatten deutsche Bomber schon Städte wie Guernica, Warschau, Rotterdam und Coventry in Schutt und Asche gelegt. Allein in Rotterdam starben dabei wohl rund 30.000 Menschen.

Aus welchem Grund die Alliierten ihren Bombenteppich über Kreuzberg ausgebreitet haben, ist bis heute umstritten. Bis zum 3. Februar 1945 gab es in Kreuzberg 170 nachgewiesene Rüstungsbetriebe. An der Ritterstraße Ecke Lobeckstraße produzierte BMW Flugzeugmotoren. Zahlreiche Zwangsarbeiter waren in Kreuzberg zur Arbeit verpflichtet worden. In Luftschutzräume durften sie nicht. Nach heutigen Schätzungen kamen über 1.000 Zwangsarbeiter bei dem Angriff ums Leben.

„Auch bei Jünger und Gebhardt mussten Ukrainer und Polen schuften. Als Kind kannte ich die alle“, sagt Schulz und zeigt dabei noch einmal in die Hinterhöfe der heutigen Alexandrinenstraße. „Zwei Jungs habe ich fast täglich gesehen. Die waren so etwa achtzehn Jahre alt. Ich weiß bis heute nicht, ob sie diesen Tag überlebt haben.“

Soldaten, die nach Kriegsende aus der Gefangenschaft zurück nach Berlin kamen, erkannten ihre Stadt nicht wieder. Ganze Straßenzüge existierten nicht mehr. Die Kreuzberger Simeonstraße wurde gar nicht erst wieder aufgebaut. Die Ruinen gingen direkt in Bauland über. Heute führt die Franz-Künstler-Straße hinter dem Jüdischen Museum quer über das Gelände.

Drei Tage nach dem Angriff kehrten die Schulzes zurück in die Alexandrinenstraße. Da waren die Feuer schon erloschen. Zum Verbrennen war nichts übrig geblieben. „Wir wollten sehen, was aus unserem Haus geworden ist“, sagt Schulz. „Aber da gab es nichts mehr. Hier standen nur noch Ruinen.“ Manfred Schulz wirft einen langen Blick in die Straße, dann dreht er sich um und schreitet durch den Schnee in Richtung Jacobikirche. Vorbei an Häusern, die lange nach dem 3. Februar 1945 erbaut worden sind.