Irrlichter der Schönheit

Eine Fallstudiensammlung über die Grenzbereiche zwischen Wahn und Sinn: Gerhard Roths hübsch vertrackter und multiple Erinnerungsräume öffnender neuer Roman „Das Labyrinth“

VON HERIBERT HOVEN

Bekanntermaßen lautet die Lehre des verflossenen Kant-Jahres: „Ich bin ein Gegenstand von mir selbst und meiner Vorstellung. Dass noch etwas außer mir sei, ist ein Produkt von mir selbst.“ Folglich erfinden die Figuren des Schriftstellers Gerhard Roth „die Realität für sich täglich neu“. So etwa der letzte Habsburger Kaiser Karl und natürlich Literaten wie der Bedeutungsfanatiker Fernando Pessoa oder der Dichter des Scheiterns, Cervantes, die beide in Roths neuem Roman „Das Labyrinth“ eine wichtige Rolle spielen.

„Ich begriff den Drang, die Wirklichkeit durch die Politik neu zu erfinden“, meint einer der Protagonisten, womit wir bei Stalin und Hitler wären: „Immer ging es um die Zerstörung der bestehenden Wirklichkeit und deren Neuformulierung nach anderen Gesetzen, sodass es schließlich unzählige Wirklichkeiten gibt.“ Aus einem halben Dutzend Büchern besteht Roths Roman, jeweils mit eigenen Titeln und durch Epiloge, Nachworte oder editorische Bemerkungen abgeschlossen, die allesamt die Gültigkeit der vorangegangenen Texte aufzuheben trachten.

Das vertrackte Verfahren des Textes im Text entfaltet sich in ganz alltäglichen Beobachtungen von teils untergründigem Humor: „Der Minister sagte nichts, sondern verschwand hinter einem Schutthaufen und schlug dort eilig sein Wasser ab. Sein Geschlechtsteil war winzig klein, was ich auf die schrecklichen Umstände zurückführte.“ Was hier der hohe Herr benetzt, sind die Überreste des Redoutensaales der Wiener Hofburg, der einem Brand zum Opfer gefallen ist. Als Brandstifter wird von seinem Psychiater Pollanzy der Student Stourzh verdächtigt, ohne dass ein Nachweis der Tat gelingt. Der pyroman veranlagte Stourzh arbeitet als Hilfspfleger in der psychiatrischen Klinik Gugging, wo er den Langzeitpatienten Franz Lindner betreut, der Roth-Lesern bereits aus dem Roman „Landläufiger Tod“ als großer Schweiger bekannt ist.

Über Lindner wiederum verfasst ein nicht näher benannter „Schriftsteller“, der unschwer als Alter Ego des Autors zu erkennen ist, eine Monografie. Stourzh selbst ist an zwei Themen zu einer Magisterarbeit gescheitert, die aber als Bruchstücke in dem Roman Aufnahme finden, als Reflexionen zu den Velázquez-Bildern der Infantin Margarita Teresa und als Interview mit Otto von Habsburg über seinen Vater Karl und den Untergang der k. u. k. Monarchie. Sämtliche Männer werden zudem von der Logopädin der Heilanstalt bezirzt.

Was wie ein schräges Kammerorchester klingt, endet gleichwohl mit einem Paukenschlag. Als die gesamte Truppe zu einem psychiatrischen Kongress nach Spanien reist, wird dort auf Pollanzy ein Mordanschlag verübt. Lindner verschwindet nach der blutigen Tat, während Stourzh als möglicher Mittäter nach Wien überstellt wird. „Die Welt ist alles, was der Fall ist“, behauptet Wittgenstein. Deshalb organisiert Roth seinen Roman als Sammlung von Fallstudien über die Grenzbereiche zwischen Wahn und Sinn. Wenn auch einer seiner Figuren dagegen hält: „Die Welt ist eine Falle, die uns mit Irrlichtern der Schönheit lockt“, so tun sich unter der „fließenden, spiegelnden Oberfläche“ der kriminalistischen Handlung Abgründe auf, die bis in die Hölle hinabreichen und durch ein geheimnisvolles „Labyrinth“ von Gängen miteinander verbunden sind. Alle Personen haben ein destruktives biografisches Element. Feuer fasziniert sie, zugleich erschrecken sie vor seiner Zerstörungskraft. Sie besuchen diverse Archive und Museen und zuletzt eine Stierkampfarena in Madrid, magisch angezogen von Zeugnissen der Gewalt. Sie sind besessen von einer Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit, die sich immer wieder als höchst fragile Imagination des menschlichen Geistes erweist. Neben der Brand- ist es daher die Kopf-Metaphorik, die den Text beherrscht, auch in den verschiedenen Gemälden, die in dem Roman abgebildet sind, angefangen von Arcimboldos „Feuer-Kopf“ über Parmigianinos Selbstbildnis im Konvexspiegel bis zu den Zeichnungen des Roth-Freundes Günter Brus.

So wie bereits am Anfang des Romans die Wiener Hofburg als „der wichtigste und kostbarste Erinnerungsraum“ Österreichs von Vernichtung durch Feuer bedroht ist, vollzieht sich das Geschehen auch in seinen feinsten Verästelungen bis hin zum Otto-v.-Habsburg-Interview als unaufhörliche Bedrohung des Erinnerungsvermögens und damit des Wahrheitspostulats. Der Autor Gerhard Roth schlüpft dabei in die Maske des Editors.

Indem die zahlreichen, in winzig kleiner Schrift verfassten Fußnoten, die wie immer das Wichtigste enthalten, eine gewisse Objektivität suggerieren, arrangiert Roth die Aufzeichnungen seiner Gewährsleute als Berichte, um sie im folgenden Text als fiktional in Frage zu stellen. Am Ende erkennen Romanfigur und Leser gleichermaßen: „Ich bin der einzige Mensch in der dunklen Nacht um mich herum.“ Wie sein Alter Ego, „der Schriftsteller“, der überall auftaucht, um Personen und Ereignisse mit Bleistift und Digitalkamera festzuhalten, ist auch Roth ein Suchender. Das verbindet ihn mit Odysseus. Weil der moderne Odysseus nicht den Winden vertraut, sondern den Windungen des Gehirns folgt, können wir eine Reiseroute entdecken, welche scheinbar disparateste Orte wie das Kunsthistorische Museum Wien, den Prado, die Wohnhäuser von Cervantes und Pessoa und das Sterbezimmer Karls I. auf Madeira anregend und überraschend miteinander verknüpft.

Die Welt in ihrer Totalität, so lautet die Botschaft dieses Romans, der der fünfte eines auf sechs Romane und einen Bildband angelegten Zyklus namens „Orkus“ ist, lässt sich nur mehr in der Kunst erfassen.

Gerhard Roth: „Das Labyrinth“. S. Fischer, Frankfurt/Main 2005, 464 Seiten, 19,90 Euro