Ansichten eines verführten Klons

Nach der Uraufführung 2003 an der Bayrischen Staatsoper ist Jörg Widmanns Oper „Das Gesicht im Spiegel“ nun in der zweiten Inszenierung in Krefeld zu sehen. Das Libretto des zeitgenössischen Musiktheaters behandelt in den 16 Szenen ein brisantes, aktuelles Thema: die Gentechnologie

VON FRIEDER REININGHAUS

Greift nur hinein ins volle Menschenleben! Die klassischste aller Empfehlungen für Theaterdichter hat der Dramatiker Roland Schimmelpfennig beherzigt, als er einen Operntext für Jörg Widmann schrieb: Patrizia besitzt und leitet eine High-Tech-Firma. Die Ehe mit Bruno hat sich zur bloßen Geschäftspartnerschaft ausgedünnt, als die Kurse des Neuen Markes einzuknicken beginnen. Doch P&B kann durchstarten, da dem leitenden Bioingenieur Milton und dessen Team ein Durchbruch in der Genforschung gelang. Sie bringen ein Geschöpf auf den Markt, das aus den Genen der Firmenchefin in deren Bestzustand geklont wurde: Jung und nicht alterungsanfällig, so gut wie unzerstörbar (da Zellen oder Körperteile in wenigen Stunden nachwachsen), mithin tendenziell unsterblich und – so will es die Kunstgattung – mit seraphisch schöner Stimme begabt.

Das Wesen, das mit völlig unvorbelastetem Kopf dem Labor entsteigt wird – wohl in Anspielung auf den berühmten Bildungsroman Justine, ou les malheurs de la vertu des Marquis de Sade (1791) – auf den Namen Justine getauft. Das Potential der frischen Gehirnzellen erweist sich in kürzester Zeit als enorm gelehrig und gefühlig – vom bloß melismatischen Singen geht Isabelle Razawi zum Prononcieren einzelner Worte und Satzteile und dann, stets Fülle des Wohllauts verströmend, in Arie mit Text über. In der Spiegel schauen darf Justine nicht. Dieser Akt der (Selbst-)Erkenntnis soll ihr verweigert bleiben.

Dennoch wird das Produkt aus der Retorte ganz Mensch – und von Bruno noch in selbiger Nacht als Weibchen und mit durchschlagendem Erfolg in Betrieb genommen (die Bildschirme auf der Bühne erlauben uns dabei zu sein). Das „Fremdgehen“, das ja eigentlich auch wieder tiefe Treue verrät, führt zu den schauderhaftesten Eifersuchtsanfällen der Originalgattin. Heulen und Zähneklappern, erhobene Büroschere beim Anrobben über den riesigen Schreibtisch und Zusammenbruch an der Sitzgarnitur. Da geht es dann so richtig zu wie am Stadttheater, dessen Produzenten zu viel aufs TV-Vorabendprogramm schielen.

Harald B. Thor hat für die Vereinigten Bühnen am linken Niederrhein eine Welt der Neureichen entworfen, in der sich denkwürdige Versatzstücke alter Kultur finden – mittelalterliche Fresken neben den Rundbogen und ein Michelangelo-Zitat darüber. Zu sehen ist der Adam der Sixtinischen Kapelle zusammen mit dem legendären Alten Herrn. Das ist vielleicht ein allzu deutlicher Fingerzeig: Jeder hört doch, dass es hier noch einmal um einen Schöpfungsakt und einige aus seinem Zeitpunkt und seinen Umständen sich ergebende Komplikationen geht.

Vor allem ging es dem Klarinettisten und Komponisten Jörg Widmann (geboren 1971) darum, seine bemerkenswert breitgefächerten musikalischen Schreibweisen vorzuführen. Wie er allein den musikalischen Morgen anberaumt: Diskret überblasen werden verschiedene Instrumente oder anderweitig obertonreich in Bewegung versetzt, der Raumklang auch etwas live-elektronisch angereichert und mit fein ausgehörten Effekten der reich bestückten Schlagwerk-Batterie garniert; dann vom Gesang eines Trupps Rheintöchter der Chorakademie Kempen überwölbt: Der Tag bricht an, an dem die Börse einbricht. Das ist virtuose Musik geworden.

Schimmelpfennigs Text, der den Herrn Bruno per Flugzeugabsturz aus der Bühnenwelt schafft, nimmt es mit der Logik der ewigen Jugend bei gleichzeitig alternder Erfahrung nicht eben ernst. Indem die Neuinszenierung neben dem nostalgischen Ambiente einen Experimentiertisch wie aus dem 19. Jahrhundert zeigt – keine gläserne und chromglänzende Labor-Architektur zum Vier-Personen-Stück – verweist sie optisch eher auf Operngeschichte als auf Musiktheater-Zukunft: Noch einmal geht es um die archetypische Angst vor dem Altern, um Liebesverlust und Rivalität. Die Konkurrentin ist hier aber nicht „echt“. Oder doch? Jedenfalls erscheint sie am Ende als die Figur, die zu den „echtesten“ Gefühlen befähigt ist. Im nach und nach retardierten Tonsatz Widmanns erweist sich die Kunstfrau in der Trauer um den Mann jener einen Nacht als eine wahre Seele. Wenn das kein tröstliches Finale bedeutet! Der einhellige Beifall war, wie bereits in München, auch in Krefeld gewiss. Manch altgedienter Operngänger mag froh gewesen sein, bei diesem Thema so glimpflich davon gekommen zu sein. Andere hingegen werden die Überlegung anstrengen, ob denn die Folgen der Reproduktionstechnik nicht doch einen unversöhnlichen Schluß auch dieses Musiktheaters nahegelegt hätten.

Termin: 09.02., 20:00 UhrInfos: 02151-805125