Spätes Sendungsbewusstsein

Als letzte Stadt ihrer Größenordnung in Niedersachsen hat nun auch Hildesheim ein Bürgerradio. Vor gut einem halben Jahr ging „Radio Tonkuhle“ als 15. Bürgerfunksender des Landes auf Sendung. Die Macher wissen, dass Radio glücklich macht. Bloße Selbstverwirklichung soll das aber nicht sein

von Kerstin Fritzsche

Carsten Weyers hat die Kaffeetasse nebenan gebunkert. Die darf nicht mit ins Studio, zu gefährlich für die Technik. Jetzt, kurz vor zehn Uhr, hat er es gleich geschafft.

Als Moderator des Tonkuhle-Morgenmagazins blickt er auf vier Stunden Alleinunterhaltung plus Technik-Fahren zurück. „Für mich steht die Information im Vordergrund“, sagt er. Mit „lustigen Morningshows“ will er nichts zu tun haben: Keine Comedy, dafür Live-Gespräche mit Gästen. Wenn es der Sache dient, kann ein Interview schon mal 20 Minuten dauern. „Ob das gut ist, darüber kann man streiten“, gibt Carsten zu. Aber der Hildesheimer ist davon überzeugt, dass in der Radiolandschaft Niedersachsens gerade Bürgerradios wie das Radio Tonkuhle die Chance haben, der Information einen Stellenwert zu geben. Weil sie weitgehend frei sind von äußeren Zwängen. Kritiker nennen das falschen Idealismus und Unprofessionalität, und bezeichnen die Lokalfunker eher als Selbstverwirklicher denn als Journalisten.

Die Vorwürfe sind so alt wie der Bürgerfunk selbst. Als in den 1980er Jahren die Bürgermedien starteten, fand das in einer Phase statt, in der man in Deutschland allgemein die „Medienkompetenz“ entdeckte. Die „offenen Kanäle“ und der „nicht-kommerzielle Bürgerfunk“ bildeten Spielwiesen für basisdemokratisches Sendungsbewusstsein. Mit den damals ebenfalls neuen Privatsendern hatten sie das Image des Revolutionären gemein. Auch wenn Privat- und Lokalfunk mittlerweile inhaltlich unterschiedliche Wege gehen, haben sie in Zeiten sinkender GEZ-Einnahmen wieder etwas gemeinsam: Bürgerradios müssen sich auch über Sponsoring teilfinanzieren – ohne Werbezeiten im Programm verkaufen zu dürfen. „In Hildesheim ist das schwierig, weil außer ‚Tonkuhle‘ noch hundert andere Vereine, Initiativen und Veranstalter um die Gunst von potenziellen Geldgebern buhlen“, sagt Geschäftsführerin Agnes Hiller.

Niedersachsen ist in Sachen Bürgermedien ein Spätzünder. Hildesheim bildet mit „Radio Tonkuhle“ dabei das Schlusslicht: Der Trägerverein bekam mit der Lizenzierung November 2003 nach Ablauf der offiziellen Modellphase „Bürgerfunk“ die Sendeerlaubnis. „Warum das noch ging, wissen wir bis heute nicht genau“, sagt Hiller. Der Ursprung von „Radio Tonkuhle“ findet sich 1998 in einem Radio-Seminar der Uni. Daraus entstand der Wunsch, auch Praktisches folgen zu lassen: Die erste Gelegenheit zur Erprobung bot sich im Sommer 2000, als während der Expo die Kirchen das ökumenische „Youthcamp“ in Hildesheim einrichteten. Danach überlebte „Radio Tonkuhle“, benannt nach einem Badesee in der Nähe der Uni, als Campusradio im Internet. Zeitgleich bemühte man sich um eine terrestrische Frequenz und ein Trägerverein wurde gegründet.

Nachdem das Sendegebiet im Westen noch einmal eingeschränkt werden musste, weil der WDR für seine „Eins live“-Frequenz, die dicht neben der von Tonkuhle liegt, Hörer schwinden sah, konnte dann am 15. August 2004 das neue Bürgerradio tatsächlich starten. Nach einem halben Jahr ist es journalistisch ernst zu nehmen und macht der lokalen Tageszeitung, die im Landkreis die Monopolstellung hat, durchaus Konkurrenz.

Die einstigen Studis haben sich ihre Arbeitsplätze selbst geschaffen: Zehn von den zwölf fest Angestellten stammen von der Uni und garantieren geregelte redaktionelle Abläufe und den Grundstock des Programms aus Nachrichten, Kultur, Musik und Sport. „Das ist das Positive an diesem späten Start“, sagt Hiller. „Ältere Bürgerradios wie ‚Flora‘ in Hannover müssen jetzt nach der Modellphase erst feste Redaktionen ins Programmschema integrieren, wir hatten aber von Anfang an die Mischung aus Redaktionen und zugangsoffenen Sendeplätzen (Zoffs).“

Auch wenn die „Zoffs“ zusätzlich Arbeit machen, sind sie doch der Kern der Medienkompetenz-Vermittlung. Wo sonst sollte Deutschlands einziges Sinti-Magazin laufen, wenn nicht auf den „Zoffs“ im Bürgerfunk? „Radio macht glücklich!“, sagt Techniker Henner Molthan, der auch auf die blödeste Frage der 150 Ehrenamtlichen, die auf den zugangsoffenen Sendeplätzen ihre Sendungen planen, noch eine Antwort weiß. Seine Sendung „Druckausgleich“ ist die älteste auf „Tonkuhle“. Beim Vorwurf, er würde sich als Bürgerfunk-DJ nur selbst verwirklichen, geht Molthan die Hutschnur hoch: „Getestete Musik wie bei den Privaten wird totgespielt. Damit wird der Musikgeschmack formatiert. Ich will die Musik, die ich spiele, vertreten können.“

Auch Carsten Weyers wehrt sich gegen den Unprofessionalitäts-Vorwurf: „Was ist denn professionell? Ist Radio immer nur Jippie-Jippie-Sagen?“ Das sei wohl eher eine Frage des Geldes. Dann könne man etwa Redaktion und Moderation trennen und hätte mehr Zeit zur Vorbereitung. Morgen wird Weyers wieder beweisen, dass er beides kann. Ab sechs, im Comedy-freien Morgenmagazin.

Radio Tonkuhle ist auf UKW 105,3 zu hören, im Kabelnetz auf 97,85, Livestream: www.tonkuhle.de