Den Kopf einziehen

In seiner DDR-Literatur-Rückschau präsentierte das Maxim Gorki Theater Franz Fühmanns Bergbau-Fragment

Rückwärts schreitet die „Glaube II“-Reihe des Maxim Gorki Theaters die Jahre der DDR-Literatur ab. 40 Jahre sollen bis zum 9. April durcharbeitet werden, dem letzten großen, unvollendet gebliebenen Projekt Franz Fühmanns, seinem Buch über ein Kupfer-Bergwerk im Mansfelder Land, war es vorbehalten, 1980 zu repräsentieren.

Das „Fragment eines Gescheiterten“, wie er den umfangreichen Text im Untertitel nannte, erschien erst 1992 posthum. Es wollte kein „Bergmannroman“ herauskommen. Und mit dem Text empfand Fühmann auch sich und seine Schriftstellerexistenz als gescheitert. Dabei befindet man sich als Autor von Fragmenten in der deutschen Literatur ja in guter Gesellschaft. Heiner Müller empfahl gar die „synthetische Herstellung von Fragmenten“. Aus heutiger Sicht kann man froh sein über einen Text, der, statt eine überflüssige Geschichte zu präsentieren, eine wertvolle Materialsammlung ist, Archivierung von Arbeitsalltag in der DDR, dort, wo man den Kopf einziehen musste und nur kriechend vorwärts kam. Schon die Fahrt in den Schacht dauerte 75 Minuten, während derer keinem nach reden war: „selbst Miezen-Max schweigt“.

Jedes Detail hat Fühmann interessiert, oft ist er selbst in den Berg gefahren. Und was er oben in dem kleinen Ort erlebte, erkennt man auch wieder, zum Beispiel den traurigen Wettlauf der Frauen um einen lohnenden Mann, der sie schneller dem Kulminationspunkt ihrer Existenz entgegenbringt: einem Auto, mit dem man die Stadt für immer verlassen kann. Für Fühmann hatte der Berg eine romantische und geradezu mythische Dimension. Neid des Autors auf einen Beruf, in dem sich seit 4.000 Jahren nicht viel verändert hat. Der Erde ihre Schätze entreißen, die Künstlermetaphorik drängt sich geradezu auf. Denn auch er will Realität abbauen, von tief unten, wo noch keiner war.

Aber wie im Bergwerk inzwischen schon der Schutt geborgen wird, den frühere Generationen wegen des zu geringen Erzgehalts in die Löcher gekippt haben, so gräbt sich auch der Autor immer wieder durch bereits durchgekaute Realitätsreste und sucht nach frischem Material. Und wie das Mansfelder Bergwerk heute stillgelegt ist, ist auch das Werk von Franz Fühmann längst nicht so präsent, wie es angemessen wäre. Schließlich hat kaum ein Autor seiner Generation sich ein Leben lang so gründlich in Frage gestellt, wie er, als überzeugter Nazi, der er in seiner Jugend war, anschließend zum Kommunisten umerzogen, aber hellsichtig für das Scheitern der sozialistischen Utopie. Mit 62 Jahren verstarb er viel zu früh.

Weil die DDR Fühmanns Wahl war, ist es für ihn existenziell, der Gesellschaft mit seiner Kunst zu nutzen. Welcher Autor stellt sich heute noch so einem Anspruch? Und wie nützt man den Werktätigen? Durch Genauigkeit? Schreibt man von „First“, „Sohle“ und „Flöz“, versteht der Leser nicht, benutzt man andere Wörter, hält der Kumpel alles für gelogen. Ohnehin würde er ein Buch über sich wohl kaum lesen, er kennt ja sein Leben. Nützt der Autor den Menschen, wenn er ihren Arbeitsalltag so beschreibt, wie er ist? Den Trübsinn in der Kantine, „im Dunst, der aus den Kesseln aufstieg, sahen die Zureichmädchen so ausgelaugt aus.“ Das schäbige Vergnügen einer Betriebsfeier, mit Betrunkenen, „in den Augen das Dösen eines ohnmächtigen Grams“.

Weil Fühmann sich nicht selbst belogen hat, erweist sich der Text als frisch. 1980 war also ein guter Jahrgang für die DDR-Literatur. Die Schauspieler sind entsprechend mit Enthusiasmus dabei und halten bei aller Komik die Balance, wo es leicht wäre, sich über die Vergangenheit lustig zu machen. Urgesteine dieses Theaters, denen man die DDR nicht erklären muss, im Zusammenspiel mit jungem Gemüse, das war schon an der Volksbühne eine erfolgreiche Mischung. Und schließlich: Was für ein Luxus, wenn 80 Zuschauer von Profis einen Text „vom Blatt“ erspielt bekommen. Und das so überzeugend nach nur drei Tagen Probe. Ist das nicht Lohndrückerei? Schließlich könnte man so ein Tempo ja damit von nun an für alle Theater zur Norm erheben.

JOCHEN SCHMIDT