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DIE STREITENDEN STIMMEN

VON CORINNA STEGEMANN

Wenn man, wie ich, aus Gründen, die ich nicht näher erläutern will, gezwungen ist, mehrfach in der Woche durch die befremdliche Landschaft des Berliner Ortsteiles Karow zu streifen, dann wird einem schnell klar, dass Karow der unwirklichste Ort der Welt ist.

Es gibt dort sehr viel Natur und Wälder, Felder und Teiche – das alles ist ja noch nicht ungewöhnlich. Aber ungewöhnlich ist, dass überall mitten in der Landschaft alte Männer herumstehen. Wirklich! Am Teich, mitten im Feld, am Wegesrand, hinter Holzkutschen – alle zweihundert Meter steht irgendwo ein alter Mann. Die machen nichts, die stehen nur da, winken und grüßen. Als würden dort einfach neben Birken und Farnen auch alte Männer wachsen. Es ist gewöhnungsbedürftig, aber nicht weiter schlimm. Nur eben seltsam. Und wie ich an diesem verwunschen anmutenden Ort gestern wieder so meine Kreise zog, da entdeckte ich hinter einem Baum ausnahmsweise keinen alten Mann, sondern eine grünlich schimmernde und sehr geheimnisvoll aussehende Flasche. Aber keine gewöhnliche Weinflasche, nein, diese Flasche war anders. Wie magisch von ihr angezogen, nahm ich sie auf und betrachtete sie genauer. Sie war etwa 50 Zentimeter hoch, von unbeschreiblichem Türkis, hatte einen langen, schlanken Hals und einen runden Bauch. Das Glas war nicht ganz durchsichtig, aber man konnte erkennen, dass die Flasche vermutlich leer war. Und sie war mit einem offenbar sehr alten Korken verschlossen. Nichts liegt näher, wenn man in Karow eine solche Flasche findet, als anzunehmen, dass sie einen Geist beherbergt.

„Ein Flaschengeist!“, jubelte ich innerlich auf und sah mich schon in Gold und Juwelen baden. Ich nahm die Flasche mit heim, um dort sofort den Geist zu befreien und meine Wünsche zu äußern.

Doch zu Hause angekommen – ich hatte den Korkenzieher schon in der Hand – da meldete sich plötzlich die Stimme der Vernunft: „Halte ein, in deinem unsinnigen Tun“, mahnte sie, „Du weißt doch gar nichts über Flaschengeister.“

Ich bekam einen Schrecken, denn die Stimme der Vernunft hatte recht. Hat man bei Flaschengeistern einen oder drei Wünsche frei, oder müssen sie ihrem Befreier auf ewig dienen? Würde meiner sich vielleicht haushoch auftürmen und mir drohen, mich wie einen Wurm zu zerdrücken? So wie in „Der Dieb von Bagdad“? Der Dieb konnte zwar den Geist durch einen Trick zurück in die Flasche bannen, aber vielleicht hat mein Geist den Film ja auch gesehen und lässt sich nicht so leicht reinlegen.

Und dann focht mich noch eine schlimmere Furcht an: Was, wenn dieser Flasche – die ich ja immerhin in Karow gefunden hatte – was also, wenn dieser Flasche lauter alte Männer entstiegen, die fortan wie angewurzelt winkend in meinem Wohnzimmer herumstünden? Was für eine unangenehme Vorstellung! Die Stimme der Unvernunft schaltete sich jetzt ein und rief mir zu: „Mach auf! Mach auf!“

Ich werde die beiden Stimmen noch etwas streiten lassen und dann entscheiden.

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