Bratlinge des Grauens

SUCHTHILFE Der Anfang vom Ende sieht oft völlig harmlos aus

„Wir waren so irre damals, wir wollten alles ausprobieren“

Das kleine Messingschild mit der Aufschrift „AM – 4. Stock, bitte dreimal klingeln“ weist den Weg nach oben. Auf mein Klingeln öffnet ein hochgewachsener, spindeldürrer Mittfünfziger mit glattem Kinn und aschfahlen Wangen. „Komm rein“, flötet er und zeigt mit einem langen, gelben Zeigefinger auf eine Tür. „Wir sitzen da hinten. Es hat schon angefangen.“

Als ich das Zimmer betrete, empfinde ich nur noch Scham. Und ich fühle mich allein. Um den großen, runden Tisch sitzen vier Männer und vier Frauen, ich bin der Neunte in der Runde. Auf dem Tisch stehen Schnapsflaschen und Knabbereien, Kerzen verleihen dem Raum eine fast heimelige Atmosphäre. Fast alle im Raum rauchen.

Neben mir sitzt eine pummelige Dreißigjährige, gekleidet in ein gestreiftes T-Shirt, ein Paar hautenge Jeans und eine hässliche, unförmige Synthetik-Sportjacke, die ihr die Form eines Schlafsacks verleiht. „Ich bin die Jenny“, sagte sie. „Ich bin von Anfang an dabei, seit einem Jahr.“ – „Und ich bin der Alex und leite die Gruppe“, sagt ein fettleibiger Rothaariger mit Hängeschnurrbart und lacht mir schleimig zu. „Der Max will uns von seiner Sucht erzählen. Und wir alle wollen ihm helfen, davon wegzukommen.“

Er schenkt mir einen Schnaps ein und bietet mir eine Selbstgedrehte an. Ich leere das Glas, zünde mir die Zigarette an und beginne zu erzählen.

„Es fing ganz harmlos an, ich war 15 oder 16 damals. Wir lagen träumend im Gras, die Köpfe voll verrückter Ideen, da sagte einer nur zum Spaß, komm lass uns auf die Reise geh’n.“ Die andern hängen gebannt an meinen Lippen, und ich erzähle weiter. „Wir waren so irre damals, wollten alles ausprobieren – und dann brachte plötzlich jemand Gemüsebratlinge und Möhrensaft statt Fritten und Bier mit …“

Ich unterbreche kurz und studiere die Gesichter der anderen nach einer Reaktion. Sie atmen heftig und schwitzen.

„Ein Jahr lang fanden wir es total crazy und berauschend, gesundes Zeug zu essen“, sage ich mit heiserer Stimme. „Ich ahnte ja nicht, dass dies nur der Anfang war. Denn eines Tages kam Bert ins Jugendzentrum und schwärmte uns von einer neuen, einmaligen, alles in den Schatten stellenden Droge vor.“ Ich hole tief Luft. Das alles strengt mich doch sehr an. „Bert brachte Laufschuhe für jeden von uns mit, er hatte alles organisiert. Ein Gelände, Stoppuhren, Pulsmesser, einfach alles. Er fixte uns innerhalb einer Woche so an, dass es für uns kein Zurück mehr gab. Es begann mit harmlosen 400-Meter-Läufen, doch wir wollten schnell mehr. Schon nach zwei Wochen waren wir so heiß, dass wir zwei Stunden am Stück laufen wollten … „Einer in der Runde stößt einen gewaltigen Seufzer aus und schaut so penetrant in eine andere Richtung, als befürchte er, allein durch meinen Anblick rückfällig zu werden. Schließlich ist auch er ein Süchtiger. „Den ersten Marathon lief ich dann in Berlin“, fahre ich fort. „Ich stand damals schon so gut im Saft, dass ich direkt unter drei Stunden blieb. Nach dem fünften Marathon innerhalb eines Jahres hatte ich meine Zeit auf 2:37 Stunden verbessert. Es war schrecklich. Ich dachte an nichts anderes mehr, ich vernachlässigte meine Freunde, ich trank keinen Alkohol mehr, ich rauchte nicht mehr, ich wurde dünner und dünner, regelrecht ausgemergelt, und ich lief immer weiter und weiter und weiter.“

Dann erzähle ich von den nächsten Monaten, dem ersten Doppelmarathon, dem Dreifachmarathon, schließlich dem Marathon des Sables in der marrokanischen Sahara, bei dem ich mich zwischendurch sogar in einen Sandstum verirrte und deshalb noch einen Umweg von 200 Kilometern lief. „All das machte mir nichts aus, ich wollte immer nur mehr, mehr, mehr. Doch das Schlimmste war: Ich habe mich damals nicht geschämt, erst heute im Rückblick ist mir das alles furchtbar unangenehm. Wie ich die wenigen Menschen, die sich noch mit mir trafen, immer und immer wieder überreden wollte, auch Marathon zu laufen. Jede Currywurst machte ich ihnen madig, jedes Glas Bier wollte ich ihnen ausreden, und wenn sie rauchen wollten, begann ich gekünstelt zu husten und mit den Armen zu wedeln.“ Plötzlich steht die Pummelige auf und nimmt mich in den Arm. In ihren Augen sehe ich Tränen. „Komm, lass dich herzen“, sagt sie. „Es ist so toll, dass du zu uns gekommen bist. Wir wissen, wovon du redest. Wir sind alle so froh, dass es die Anonymen Marathonläufer gibt. Ich weiß, du kommst bald darüber hinweg.“ Sie schenkt mir einen Schnaps nach. Ich zünde mir eine Zigarette an und atme tief durch. Ich bin glücklich. MAX LAMPIN