Die ganze Geschichte zur Nutzung privater Daten durch die Industrie

1 Frühjahr 2008: Überwachungsskandale bei Lidl und Telekom aufgedeckt. Der Discounter hatte Mitarbeiter bespitzeln lassen, der Telefonkonzern zudem Journalisten und Verwandte von Betriebsräten. Im Sommer spaziert obendrein der Mitarbeiter eines Callcenters mit einer Daten-CD unbehelligt aus seiner Firma. Wenig später kaufen Verbraucherschützer undercover auf dem Schwarzmarkt etwa 6 Millionen Datensätze – für nur 850 Euro. Journalisten berichten, Politiker verlangen Konsequenzen – und alte Forderungen von Datenschützern erhalten eine neue Dynamik.

2 September 2008: Innenminister Wolfgang Schäuble hält einen Datenschutzgipfel ab. Datenschützer und Regierungspolitiker sind sich einig, dass Adressdaten nur noch mit Einwilligung der Betroffenen weitergegeben werden dürfen: das Opt-in-Prinzip. Schäuble will zudem höhere Bußgelder. Adresshändlern sollen rechtswidrig erlangte Gewinne abgenommen werden können. Das Thema ist so populär, dass der damalige Wirtschaftsminister Michael Glos sogar ein Totalverbot des Datenhandels fordert. Das wollen nicht einmal die Datenschützer.

3 Juni 2009: Eine große Lobbykampagne gegen Einschränkungen des Adresshandels hat Wirkung gezeigt: Vom Abschöpfen illegaler Gewinne und von höheren Bußgeldern ist heute nicht mehr die Rede, auch das Opt-in-Prinzip kippelt. Der Innenausschuss des Bundestags will am 17. Juni entscheiden, ob aus dem Projekt vor der Bundestagswahl noch etwas werden kann.

Die Chance zur Veränderung hatte sich unerwartet aufgetan, mitten in einer Krise. Denn manchmal müssen die Dinge erst richtig schlecht werden, bevor sie gut werden können.

Es war der 11. August 2008, Thilo Weichert kam braun gebrannt nach zwei Wochen Slowenien-Urlaub zurück ins Büro und platzte direkt hinein in den größten Datenskandal, den Schleswig-Holstein bislang erlebt hat. Eine CD war aufgetaucht, angeboten von dem Mitarbeiter eines Callcenters. Darauf waren mehr als 17.000 Datensätze gespeichert: Namen, Adressen, Geburtsdaten und Kontoverbindungen. Der Callcenter-Mitarbeiter war mit der kleinen Scheibe einfach aus dem Callcenter spaziert. Kein Chef, kein Kollege hatte ihn aufgehalten. Natürlich produzierte diese CD nun eine große Aufregung. Kiel mag am Rande Deutschlands liegen, aber in den darauffolgenden Wochen stand Thilo Weichert im Mittelpunkt des Geschehens, plötzlich warteten Journalisten vor dem Datenschutzzentrum, er gab Interviews für Radio und Fernsehen. Das war neu.

Spitzelei bei Lidl

Datenschutz ist für gewöhnlich kein entspannter Urlaubsspaziergang. Eher das Hinabsteigen in einen Keller voller Zahlen und Buchstaben, versteckter juristischer Falltüren, verwaltet von Herren in grauen Anzügen. Die Deutschen haben sich zum letzten Mal vor 20 Jahren wirklich für Datenschutz interessiert – zur Volkszählung. In Zeiten, in denen Menschen auf Internetseiten wie StudiVZ oder Facebook jeden Tag aufs Neue Selbstdarstellung betreiben, zweifelten selbst Datenschützer manchmal an ihrer Mission. Aber auf einmal wurde wieder über Datenschutz geredet. „Wir haben die ganze Debatte erst ins Rollen gebracht“, sagt Weichert heute. „Wir waren der Auslöser!“

Damals war einiges zusammengekommen: Im Frühjahr 2008 stellt sich heraus, dass der Discounter Lidl seine Mitarbeiter systematisch von Detektiven ausspionieren ließ. Kurz darauf stand in den Zeitungen, die Telekom habe Journalisten, Verwandte von Betriebsräten und Gewerkschafter bespitzelt. Diese Skandale rüttelten die Menschen wach. Als sie die Augen aufmachten, sahen sie Thilo Weichert im Fernsehen über die Gefahren des Datenhandels sprechen.

Wenig später gelang dem Bundesverband der Verbraucherzentralen ein Coup: Ihre Mitarbeiter schafften es, auf dem Schwarzmarkt für 850 Euro 6 Millionen Datensätze zu kaufen, 4 Millionen enthielten Kontodaten. Das Telefon in Weicherts Büro klingelte und klingelte. Leute riefen an und erzählten ihre Geschichten. Sie handelten meist von Firmen, die mit illegal beschafften Daten versuchten, Menschen über den Tisch zu ziehen. Einmal meldeten sich die Verwandten eines Rentners, von dessen Konto über mehrere Monate 30 unterschiedliche Unternehmen auf der Basis von angeblich erteilten Ermächtigungen Geld abgebucht hatten.

Die Scheinwerfer waren jetzt auf Thilo Weichert gerichtet. Es war der ideale Zeitpunkt, Forderungen zu stellen. „Daten sollten künftig nur dann weitergegeben werden dürfen, wenn der Betroffene ausdrücklich zustimmt“, sagte Weichert in die Mikrofone und Fernsehkameras. Im bestehenden Bundesdatenschutzgesetz aus dem Jahr 1977 gilt noch das sogenannte Listenprivileg. Dieses erlaubt den Handel mit Daten, solange der Verbraucher nicht widerspricht. Weichert wollte dieses Listenprivileg abschaffen.

Alle werden Datenschützer

Alle möglichen Leute sprangen nun auf das Thema an. Verbraucherschützer, Globalisierungskritiker, Internetblogger, Politiker aus allen Parteien, keiner wollte der Letzte sein. Wirtschaftsminister Glos forderte in einer überschwänglichen Laune sogar ein vollständiges Verbot des Adresshandels. Datenschutz schien in diesen Wochen einen ähnlichen hohen Stellenwert zu haben wie die Klimaerwärmung. Auch Abgeordnete aus SPD und Union, die kurz zuvor noch die Verschärfung staatlicher Überwachungsmaßnahmen vorangetrieben hatten, wurden über Nacht zu Datenschützern. Die neue Rolle fühlte sich gut an.

Auch Wolfgang Schäuble gefiel sie. Der Innenminister ließ Einladungen zu einem „Datenschutzgipfel“ verschicken, den er am 4. September 2008 in seinem Ministerium abhalten wollte. Thilo Weichert und die anderen Datenschutzbeauftragten sollten kommen und fast alle zuständigen Minister.

Weichert reiste bereits einen Tag vorher mit dem Zug aus Kiel an und traf sich in Berlin mit den anderen Landesdatenschutzbeauftragten im Büro des Bundesdatenschützers Peter Schaar. Die Versammelten diskutierten kaum, die Forderungen waren altbekannt. Ganz oben auf der Wunschliste stand die Abschaffung des Listenprivilegs. Zudem sollten der Datenschutz am Arbeitsplatz verbessert und die Verbraucherrechte gegenüber Auskunfteien gestärkt werden. Man würde nicht alles durchkriegen, glaubten die Datenschützer, aber ein oder zwei Punkte vielleicht schon.

Die Überraschung war groß, als dann beim Datenschutzgipfel im Innenministerium Schäuble ein Papier auspackte, auf dem fast dasselbe stand wie auf dem Zettel von Weichert und seinen Kollegen. Die Abschaffung des Listenprivilegs war auch eines von Schäubles Hauptanliegen.

„Wir haben offene Türen eingerannt!“, ruft Thilo Weichert, wenn er heute in seinem Büro sitzt und sich erinnert. „Wahnsinn!“ Nach dem Schäuble-Gipfel stieg Weichert wieder in den Zug zurück nach Kiel, seine Laune war blendend.

Er hatte im richtigen Moment gezündet, die Abschaffung des Listenprivilegs war wie eine Rakete gestartet.

Im ersten Stock einer Außenstelle des Innenministeriums am Fehrbelliner Platz in Berlin setzen sich nach dem Gipfel vier Mitarbeiter des Referats „Datenschutz“ an ihre Computer. Sie sollen so schnell wie möglich einen Gesetzentwurf erarbeiten, der alle gewünschten Neuerungen enthält. Die Mitarbeiter blättern im aktuellen Datenschutzgesetz, einem daumendicken Buch, in dem sich unter Paragraf 28 das Stichwort „Listenprivileg“ findet. Sie legen eine neue Word-Datei an.

Auch ihre Chefin, eine elegante, strenge Dame in den Fünfzigern, schaltet am 13. Oktober im letzten Büro am Ende des langen Flurs ihren Computer ein. Cornelia Rogall-Grothe, Leiterin der Abteilung V im Innenministerium, ist die Frau, die im Hintergrund dafür sorgt, dass ihr Dienstherr Schäuble als Datenschützer dasteht. Rogall-Grothe soll den Adresshändlern Fesseln anlegen. Per E-Mail verschickt sie die Word-Datei, die ihre Mitarbeiter geschrieben haben, an die anderen Ministerien und bittet um Stellungnahme. Diese Mail schickt sie am 22. Oktober auch an Vertreter der Länder, an die Kirchen und über dreißig Verbände.

Die Rakete fliegt. Man könnte es auch anders sehen: Cornelia Rogall-Grothe hat sie zum Abschuss freigegeben.

Julia Klöckner ist eine CDU-Politikerin, aus der noch etwas werden soll. 36 Jahre alt, sympathisch, protegiert von Mächtigen ihrer Partei. Als ehemalige Weinkönigin mit pfälzischem Dialekt verfügt Klöckner, auch wenn sie sich mit Föhnfrisur und im cremefarbenen Hosenanzug durch das Berliner Regierungsviertel bewegt, über die stabile Erdverbundenheit und rundum wohlgenährte Selbstzufriedenheit der westdeutschen Provinz. Derzeit bekleidet Julia Klöckner das Amt der Verbraucherbeauftragten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Es ist kein sehr wichtiger Posten, aber immerhin ein Amt, in dem man zeigen kann, dass man für Höheres taugt. Als Anfang Oktober letzten Jahres rauskommt, dass der Telekom-Tochter T-Mobile 17 Millionen Datensätze von Kunden verloren gegangen sind, die nun auf dem Schwarzmarkt wieder auftauchen, wittert auch Julia Klöckner ihre Chance. Sie will nach oben, und das Thema Datenschutz führt genau dorthin.

Als dann noch diese Frau in ihre Sprechstunde kommt, ist Klöckner vollends überzeugt, dass etwas geschehen muss. Die Frau erzählt, dass sie bei einem Versandhaus Kleidung in Übergröße bestellt habe. Daraufhin sei ihr Briefkasten überflutet worden von Werbung für Pralinen und Diätprodukte. „Ich war schockiert, was aktuell erlaubt ist“, schimpft Julia Klöckner. Seit dem Gespräch ist sie eine entschiedene Kämpferin für die Abschaffung des Listenprivilegs. Sie sitzt in ihrem schmalen Büro im Westflügel des Paul-Löbe-Hauses im Berliner Regierungsviertel. An der Wand hängt ein Haken mit bunten Faschingsorden, auf dem Tisch steht eine Schüssel mit Bonbons, und auch wegen all der Büromöbel, Aktenordner und Blumensträuße, die sich hier sonst noch drängeln, wirkt der Raum ziemlich klein für die laute Empörung der Bundestagsabgeordneten Julia Klöckner.

Sie muss sich aber empören über die vielen Briefe, die über sie hereingebrochen sind in den vergangenen Monaten. Sie hat E-Mails, Telefonanrufe, Einladungen und Besucheranfragen bekommen, vor allem aber diese Briefe! Noch nie ist Julia Klöckner so bestürmt worden wegen eines politischen Vorhabens. Sie springt auf und schnappt einen Stapel Papier von ihrem Schreibtisch. Die Briefe sind vom Deutschen Dialogmarketing Verband, vom Deutschen Presserat, vom Bundesverband Deutscher Inkasso-Unternehmen, von Versandhäusern, von der Konfessionellen Presse, von der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di, von den SOS-Kinderdörfern. Bis zu 120 solcher Schreiben haben manche Abgeordnete bekommen, die vielen Mails nicht mitgezählt. Ein Brief listet auf, welche Unternehmen in Klöckners Wahlkreis vom Listenprivileg profitieren. Und alle Briefe warnen die Bundestagsabgeordnete Julia Klöckner – vor dem Zusammenbruch ganzer Wirtschaftszweige, vor den tausenden Arbeitsplätzen, die verloren gingen, würde das neue Gesetz verabschiedet.

„Unwahrscheinlich, dass die Abschaffung noch kommt“

DER LOBBYIST HANS GLISS
Die Industrie greift an

Die Industrie kämpfte dafür, dass sie auch weiter die Menschen mit Reklamebriefen überschwemmen kann. Indem sie die Politiker überschwemmte.

Julia Klöckner wedelt mit dem Papier und meint spöttisch: „Es ist ja wirklich zu rührend! Diese Sorge, dass Deutschland untergeht, wenn das Listenprivileg abgeschafft wird.“ Klöckner glaubt nicht an den Verlust von Arbeitsplätzen, sie glaubt an die Veränderung des Arbeitsmarkts, sie ist überzeugt, die Lobbygruppen hätten vor allem „Angst vor dem mündigen Bürger“. Dann packt Julia Klöckner in zwei knappe Worte, was sie also von der ganzen Kritik hält: „Totaler Käs!“

Dennoch mussten die vier Mitarbeiter des Referats „Datenschutz“ der Abteilung V des Innenministeriums nach der Kritik von Verbandsvertretern und Lobbyisten erste Ausnahmeregelungen in ihre Word-Datei schreiben. Der Gesetzentwurf, den das Kabinett am 10. Dezember beschließt, sieht nun vor, dass Unternehmen weiter Eigenwerbung an ihre Kunden verschicken dürfen. Gemeinnützige Organisationen haben auch künftig die Erlaubnis, Spendenreklame zu verschicken. Werbung zwischen Geschäftskunden ist ebenfalls ohne Einwilligung der Betroffenen möglich. Und auch die sogenannte Beipackwerbung ist erlaubt, wonach etwa ein Versandhaus dem Paket, das er an einen Kunden verschickt, Werbung von anderen Unternehmen beipacken darf.

Die ersten Geschosse haben die Rakete getroffen, sie hat ein paar Dellen und fliegt nun schon langsamer. Aber noch reist sie weiter auf ihrem Weg durch die Gremien: Der Bundesrat nimmt am 13. Februar Stellung, am 16. Februar wird das Thema bei einem Gespräch auf Ministerebene verhandelt, zwei Tage später nimmt die Bundesregierung Stellung. 5. März: interne Anhörung der Verbände; 19. März: erste Lesung des Gesetzes im Bundestag; 23. März: öffentliche Anhörung von Sachverständigen. Seither hängt der Gesetzentwurf im Innenausschuss fest.

Hans Gliss lehnt an der Sofakante einer Sitzgruppe in einem großen Berliner Hotel, er ist auf dem Sprung, neben ihm wartet sein Rollkoffer, sein Flugzeug geht gleich. Hans Gliss, 65 Jahre alt, graue Hose, dunkelblaues Kapitänsjackett mit Goldknöpfen, gelbe Krawatte und metallenes Brillengestell, kann mit sich zufrieden sein. Dass die Abschaffung des Listenprivilegs, die vor ein paar Monaten noch als Rakete gestartet ist, inzwischen nur mehr einem müden Papierflieger gleicht, ist auch sein Verdienst.

Gliss ist kein Lobbyist, der in Ausschüssen des Bundestages seine Meinung zu einem Gesetz vorträgt. Das muss er auch nicht. Seine Ansichten finden auf anderen Wegen ihre Verbreitung. So gibt Gliss die Fachzeitschrift Der Datenschutzberater heraus. Ab und an landet eines seiner Positionspapiere auf dem Schreibtisch eines Ministers, wie er sagt. Und während die Politik über das Datenschutzgesetz berät, hält er in Berlin eine Tagung mit über 200 Datenschützern aus deutschen Unternehmen ab. Dort bekunden die Wirtschaftsvertreter lautstark, wie schlecht durchdacht das neue Gesetz wäre. Hans Gliss war schon 1977 dabei, als das erste Bundesdatenschutzgesetz geschrieben wurde. Jetzt ist er es wieder. Das Wort Lobbyist mag er nicht. Ihm ist „Datenschutzberater“ lieber. Klingt neutral.

Seit September vergangenen Jahres berät Hans Gliss unter anderen den Deutschen Dialogmarketing Verband, wie die Abschaffung des Listenprivilegs am besten zu kippen sei. Der DDV ist ein mächtiger Verband. In seinem Kampf für den Adresshandel hat er unter anderem die Versandhäuser, die Verlage, die Wohlfahrtsverbände, die Listbroker, die Marketingagenturen, die Callcenter und die Fundraiser ins Boot geholt, ja sogar die Lageristen der Warenhäuser sind mit dabei. Sie munitionieren sich mit den Argumenten von Hans Gliss. Diese lauten zum Beispiel so: „Man darf die hohe Akzeptanz der Bürger von adressierter Werbung nicht unterschätzen; die 30 Millionen ‚Postkäufer‘ nehmen Angebote in Anspruch, von deren Existenz sie vor der Werbung oft nicht wussten; sie auf eine schriftliche Einwilligung zu verweisen ist widersinnig, weil man erst in Werbung einwilligen kann, wenn man weiß, welcher Anbieter welche Produkte und Dienstleistungen vorhält. Außerdem ist der Laie nicht so weit juristisch vorgebildet, eine Einwilligung im Sinne des BGB korrekt zu formulieren.“

Weil ihm die Ausnahmen des Gesetzentwurfs vom Dezember nicht weit genug gehen, verteilt Gliss seine „Expertisen“ Anfang diesen Jahres zudem an Politiker aller Parteien, ans Innenministerium und „an jeden, den das irgendwie interessieren könnte“, wie er heiter erzählt. „Schließlich macht man mit der Abschaffung des Listenprivilegs eine ganze Werbebranche kaputt!“ Und bevor der Berater Hans Gliss an diesem Tag ins Flugzeug steigt, möchte er noch eines loswerden: „Hören Sie: Es gibt 30 Millionen Postkäufer in Deutschland! 30 Millionen! Die Unternehmen sind darauf angewiesen, dass sie jedes Jahr 10 bis 20 Prozent Neukunden werben, das würde mit dem Wegfall des Listenprivilegs unmöglich gemacht.“

Gliss hat an einer ähnlichen Stellungnahme des Bundesverbandes der Deutschen Industrie mitgearbeitet. Genauso an einer offiziellen Verlautbarung des Dialogmarketing Verbandes. Die Papiere sind im März an die Bundesregierung geschickt worden. Neue Geschosse, die abgefeuert wurden.

Auch die Gegenseite kämpft. Der Datenschutzbeauftragte Thilo Weichert aus Schleswig-Holstein und die CDU-Bundestagsabgeordnete Julia Klöckner besuchen Diskussionsveranstaltungen, setzen sich auf Podien und versuchen, die Zweifler zu überzeugen. Etwa beim CDU-Wirtschaftsrat oder bei einem Expertenabend, den die Firma Microsoft organisiert. Auch Weichert schreibt „Argumentationshilfen“ ans Innenministerium. Dass die Kanzlerin auf dem Verbrauchertag am 12. Mai fünf Minuten über das Thema Datenschutz gesprochen hat, hält er für ein gutes Zeichen. Zur Novelle des Bundesdatenschutzgesetzes hat Merkel immerhin erklärt: „Ich werde mich dafür einsetzen, dass das zu einem guten Ende geführt wird.“

Ende Mai sitzt die Leiterin der Abteilung V, Cornelia Rogall-Grothe, am Besprechungstisch in ihrem Büro im ersten Stock ihrer Außenstelle des Innenministeriums. Vor ihr liegt eine Mappe. In der Mappe steht das bisschen, was noch von der Abschaffung des Listenprivilegs übrig ist, von der großen Selbstermächtigung der Verbraucher. Dass draußen vor dem Fenster der Regen herunterrauscht, entspricht nur der traurigen Lage der Dinge. „Die Diskussionen waren bei diesem Gesetzentwurf außergewöhnlich heftig“, sagt Cornelia Rogall-Grothe. „Vielleicht weil in dieser wirtschaftlich angespannten Zeit die Betroffenheit besonders groß ist. Wenn die Befürchtung im Raum steht, dass Arbeitsplätze verloren gehen könnten, muss man Verständnis dafür haben, dass die Interessenwahrnehmung besonders intensiv erfolgt.“

Es sind die Ausnahmen, die Löcher in die Rakete reißen. Der Innenausschuss diskutiert derzeit, ob die Weitergabe von Adressen auch ohne ausdrückliche Zustimmung des Verbrauchers doch zulässig ist. Nämlich dann, wenn der Verbraucher nachvollziehen kann, welchen Weg seine Daten gegangen sind. Dies wäre zum Beispiel durch Aufdrucken eines Nummerncodes auf der Werbepost möglich. Der Verbraucher könnte in diesem Fall mit dem Code bei einer Auskunftsstelle den Weg seiner Daten verfolgen. Die weitere Ausnahme, die im Gespräch ist, betrifft so genannte Empfehlungswerbung. Ein Versandhaus dürfte seinen Kunden Produkte anderer Firmen anpreisen.

Es fällt schwer, diese Ausnahmen als Fortschritt zu begreifen. Im Gegenteil besteht der dringende Verdacht, dass die Verbraucher weiterhin volle Briefkästen haben werden. Sollten die Menschen ursprünglich das Recht auf ein deutliches Nein zur Werbepost bekommen, dürfen sie bald vielleicht nur noch nachverfolgen, wem sie das viele bunte Papier zu verdanken haben.

„Ich war schockiert, was aktuell erlaubt ist“ DIE CDU-POLITIKERIN KLÖCKNER

Was bleibt noch übrig?

Die Leiterin der Abteilung V des Innenministeriums Cornelia Rogall-Grothe will dazu eigentlich nichts sagen. Sie zupft am Kragen ihrer vornehmen schwarzen Bolerojacke, lächelt diplomatisch und meint: „Ich denke, dass es immer noch ein sehr ausgewogener Entwurf ist“.

Auf jeden Fall ist jetzt alles sehr knapp. Inzwischen ist unklar, ob das Gesetz überhaupt noch kommt. Der Innenausschuss hat die Beratungen auf den 17. Juni vertagt. Wenn sich Union und SPD dann einigen, könnte zumindest ein weniger scharfes Datenschutzgesetz am 1. September in Kraft treten. Der Wahlkampf spielt eine Rolle. Die Parteien geben widersprüchliche Presseerklärungen heraus. Die SPD will dem Schäuble-Ministerium keinen Triumph gönnen. Andererseits will sie nicht als Verhin-derer dastehen. Die Union hat das Gesetz mit großem Tamtam angekündigt, nun kann sie es schwerlich wieder abschießen. Jeder will gleichzeitig ein guter Datenschützer und ein Freund der Wirtschaft sein. Cornelia Rogall-Grothe lächelt milde, wie eine Kindergärtnerin, die auf streitende Kinder guckt. Sie wartet jetzt auf den 17. Juni.

Alle warten auf den 17. Juni.

Hans Gliss macht Urlaub auf seinem Landsitz in Südfrankreich. Er bellt fröhlich ins Telefon: „Wir haben die Ohren im Wind! Aber ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass die Abschaffung des Listenprivilegs noch kommt.“

Die CDU-Abgeordnete Julia Klöckner wiederholt in einem Interview mit einer Lokalzeitung: „Die persönlichen Daten gehören dem Kunden!“. Die Frau aus ihrer Sprechstunde wird die Werbung für Pralinen und Diätprodukte wohl weiter bekommen. Entweder ihren Versandhausbestellungen beigelegt. Oder empfohlen vom Versandhaus selbst.

Thilo Weichert, Datenschutzbeauftragter von Schleswig Holstein, sitzt in seinem Büro. Er sagt: „Ich bin natürlich frustriert.“ Aber weil man so einen Satz nicht stehen lassen kann, fügt er hinzu: „Wir bewegen uns immerhin auf datenschutzfreundlichere Zeiten zu.“ Es ist das Äußerste, was er in dieser Situation sagen kann.

■ Kirsten Küppers, Jahrgang 1972, ist ständige sonntaz-Autorin. Sie bekommt Werbepost von easycredit und der Sparda-Bank

■ Daniel Schulz, Jahrgang 1979, ist Redakteur im taz-Inlandsressort. Er kriegt keine Werbepost, vielleicht weil er in Berlin-Neukölln wohnt