Angeklagte haben Rechte

Rechtsstaat ist vermittelbar: Beim Aufbau des Justizsystems erhält Afghanistan Hilfe aus Europa – auch durch den Bremer Anwalt Karim Popal. Der reist dafür erstmals seit 27 Jahren in die Heimat

Interview: Eva Rhode

Mit einer fünfköpfigen europäisch besetzten Delegation reist am kommenden Sonntag der Bremer Anwalt Karim Popal nach Afghanistan – um dort an einem Justizaufbauprojekt des Max-Planck-Instituts teilzunehmen. Fünf Wochen dauert die Schulungsmaßnahme „Faires Verfahren“ für afghanische Richter und Staatsanwälte, die das Auswärtige Amt finanziert. Für Popal ist es die erste Reise nach Kabul seit 27 Jahren.

taz: Sie waren immer gegen den Krieg in Afghanistan. Jetzt fahren Sie als Aufbauhelfer an den Hindukusch, um Juristen für Grundrechte zu sensibilisieren. Wer sind die Richter, mit denen Sie sprechen werden?

Karim Popal: Die Richter, deren Ausbildung bislang nur im Rahmen der Scharia erfolgt ist, wurden alle berufen – quotiert nach Parteien, nach ethnischer Zugehörigkeit und so weiter. Manche kennen nicht einmal das afghanische Grundgesetz und wissen auch nicht, dass ein Angeklagter Rechte hat. Aber es steht insgesamt ja noch schlecht um die Justiz in Afghanistan: Die juristische Fakultät hat in den vergangenen 30 Jahren nichts produziert, und in Kabul gibt es heute nur drei Anwälte, keiner unter 70 Jahre alt. Selbst wenn es gewünscht wäre, hätte also kaum ein Angeklagter die Chance auf einen Verteidiger. Das widerspricht sämtlichen internationalen Grundsätzen. Hier beginnt unsere Überzeugungsarbeit: Dass man in allen Bereichen – Zivilrecht, Strafrecht, Verwaltungsrecht – Gesetze und Verfahrensgrundsätze braucht, die für Afghanistan angemessen sind und sich an internationalen Standards orientieren.

Hat Ihre Mission Aussicht auf Erfolg? Immerhin wurden doch erst kürzlich lauter muslimische Theologen als Richter an den Obersten Gerichtshof Afghanistans berufen, von denen Beobachter als „milde Taliban“ sprechen.

Das ist eine Situation, mit der man klug umgehen muss. Die äußeren Voraussetzungen sind allerdings günstig, denn in Afghanistan gelten die Deutschen als Freunde. Jetzt haben Professoren und Afghanistan-Kenner das afghanische Strafgesetzbuch und die Verfassung untersucht und festgestellt, dass beides ausreicht, um eine faire Justiz aufzubauen. Wir müssen die Richter und die Staatsanwälte nun davon überzeugen, dass sie einer unabhängigen Rechtsprechung verpflichtet sind – und zwar unabhängig von den islamischen, politischen und ethnischen Strukturen. Das Max-Planck-Institut ist überzeugt davon, dass das möglich ist.

Sie reisen nach vier Wochen wieder ab. Die Richter, die den Bedrohungen durch korrupte Warlords ausgesetzt sind, müssen allerdings bleiben. Wie lässt sich dieses Problem in den Griff bekommen?

Es muss gelingen, die Rechtsprechung aus der Abhängigkeit der Warlords zu holen. Vergessen Sie aber nicht, dass auch die Amerikaner in Bezug auf Kriegsführung und Strafverfolgung stets eigene Interessen verfolgen, die mit dem Aufbau einer unabhängigen Justiz nicht unbedingt Hand in Hand gehen. Wie einflussreich wir sein werden, das kann ich nicht sagen. Wohl aber, dass wir vermitteln werden, dass es nichts als Barbarei ist, wenn Menschen in Afghanistan von wem auch immer unrechtmäßig festgehalten und entwürdigenden Verhörmethoden oder Folter unterzogen werden. Das verstößt gegen internationales Recht.

Wie wird diese westliche Rechtsvorstellung in Afghanistan aufgenommen?

Gemischt. Schiitische Organisationen beispielsweise versuchen mit allen Mitteln, die Justiz ortsgebunden zu prägen, so dass es in Gebieten, wo die schiitische Bevölkerung überwiegt, eine Art iranisches Rechtssystem geben soll. Ich hoffe, dass es dazu nicht kommt. Es muss ein nationales Recht geben. Man muss Afghanistan islamisch modernisieren und verdeutlichen, dass man nicht die islamische Religion bekämpft – wohl aber islamische Kriegsherrschaft. Wo steht denn im Koran, dass ein Angeklagter keine Rechte hat? Nirgends. Die Scharia verbietet auch, Kinder zu bestrafen – aber in afghanischen Gefängnissen sitzen Kinder unter 16 Jahren. Wir wollen sagen: Seid bewusste Moslems, praktiziert die Religion, seid gerecht und verstoßt auch deshalb nicht gegen internationale Verträge. Auch Mohammed hat seinerzeit mit Juden und Christen Verträge geschlossen – und gehalten. Wenn die Menschen verstehen, dass eine funktionierende Justiz Sicherheit schafft, werden sie dafür sein. In Kabul fühlt sich doch zurzeit kein Mensch sicher.