Jugend ohne Stadt

Der Wahlkampf in Schleswig-Holstein, sagt man, werde im Hamburger Speckgürtel entschieden. Etwa ein Viertel der schleswig-holsteinischen Bevölkerung wohnt dort. Tendenz steigend. Ein Besuch in Norderstedt

aus Norderstedt Daniel Wiese

Norderstedt, der Name sagt eigentlich alles. Bevor das Gebilde 1970 per Dekret entstand, diskutierte man noch, ob es nicht besser „Süderstedt“ heißen solle. Süderstedt, die Stadt im Süden von Schleswig-Holstein. „Norderstedt“ hat sich aber durchgesetzt.

Fährt man von Hamburg mit der U1 raus nach Norderstedt, ziehen vor den Fenstern Pferdekoppeln vorbei. Norderstedt liegt im so genannten Speckgürtel von Hamburg und ist die fünftgrößte Stadt Schleswig-Holsteins. Im Speckgürtel, sagt man, werde die Wahl entschieden. Ein Viertel der Bevölkerung Schleswig-Holsteins wohnt dort. Tendenz: steigend. Das Wahlkampfpodium in Norderstedt findet um 19 Uhr im Kirchenzentrum am Falkenberg statt.

16.30 Uhr: Norderstedt-Mitte, U-Bahnhof. Der Bahnsteig liegt unterirdisch, im Schein der Deckenleuchten wirkt er aufgeräumt wie ein Operationssaal. Die Passagiere steigen aus, verschwinden schweigend Richtung Rolltreppe, beobachtet von Überwachungskameras. Dann ist der Bahnsteig wieder leer.

„Am 17. Juli 1973 hat die Landesregierung Schleswig-Holstein die Entwicklungsbereichsverordnung Norderstedt erlassen“, informiert die Stadt Norderstedt auf ihrer Homepage. „Zweck dieser Verordnung ist die gezielte Förderung der städtebaulichen Entwicklung von Norderstedt-Mitte.“

Bevor Norderstedt erfunden wurde, gab es die vier Gemeinden Friederichsgabe, Garstedt, Glashütte und Harksheide. Vier Orte, die schon begannen, ineinander zu wachsen. Ein Zentrum gab es nicht. Also beschloss man, eines zu bauen.

17 Uhr, vor der U-Bahn-Station: die Autos kommen aus beiden Richtungen, in einem unablässigen Strom wälzt sich der Verkehr. Auf der anderen Seite der Straße ist der Busbahnhof, links steht das Rathaus, rechts das Einkaufszentrum. Beide sehen genau gleich aus, es sind große, trutzige Backsteinkomplexe, gebaut für eine Ewigkeit. Der größte Unterschied besteht darin, dass auf dem Einkaufzentrum ein Leuchtschild angebracht ist, auf dem „Moorbek-Passage“ steht. Über dem Eingang des Rathauses dagegen steht „Rathaus“.

Fußgänger sind in Norderstedt fast keine unterwegs, weswegen die Szenerie etwas Gespenstisches hat. Es ist, als hätte man eine Stadt gebaut, nur die Menschen wären nicht gekommen. Dabei haben es die Stadtväter gut gemeint. Die Gehsteige sind extra breit, auch sie wurden wie ganz Norderstedt-Mitte aus glattem, fest gefügten Backstein errichtet.

Auch in der großzügigen Eingangshalle des Rathauses ist kein Mensch zu sehen außer der Dame in der Empfangskabine, die über den Besuch etwas erstaunt zu sein scheint. Als sie die Glasfenster zur Seite schiebt, strömt ein Schwall heißer Luft aus dem Kabineninneren. Wahlkampf? Kirchenzentrum? „Ich nicht kennen, ich bin katholisch“, sagt die Dame entschuldigend und beginnt etwas zu suchen. Schließlich zieht sie triumphierend eine Broschüre hervor, auf der steht: „Leben in Norderstedt 2003“. „Da ist auch ein Stadtplan drin“, sagt sie.

Damit kein falscher Eindruck entsteht: in Norderstedt gibt es durchaus ein Freizeitangebot. Zum Beispiel das Spaßbad „Arriba“, keine zwei Kilometer von Norderstedt-Mitte entfernt, neben dem noch bis Ende Februar eine 500 Quadratmeter große Eislaufbahn steht. Sehr viel näher, nämlich direkt im Rathaus, befindet sich der größte Veranstaltungsraum von Norderstedt, die „TriBühne“ mit 2.000 Sitzplätzen. Heute Abend wird dort Theater gespielt, „Arturo Ui“ von Brecht. Morgen kommt Bundeskanzler Schröder vorbei, ein Wahlkampfauftritt.

19 Uhr. Im Kirchenzentrum am Falkenberg ist der Saal voll mit Norderstedter Bürgern, die meisten jenseits der 50. An den Wänden hängen Zettel, auf denen in großen Buchstaben steht: „Ringschleife für induktiven Empfang: Schalten Sie ihre Hörgeräte auf Position T“. Die Kandidaten sitzen direkt vor dem Altar, in der Mitte Pastor Gunnar Urbach.

Das Podium macht sich Sorgen um die Norderstedter Jugend, die offenbar lieber in der Einkaufspassage „Herold-Center“ im Ortsteil Garstedt abhängt und Drogen nimmt, statt zur Schule zu gehen. Je weniger Jungendeinrichtungen es gebe, desto größer werde die Jugendkriminalität, mahnt der Pastor, und auch die Grünen-Frau Monika Heinold findet: „Jeder Tag, den ein Jugendlicher auf der Straße verbringt, ohne dass sich jemand um ihn kümmert, ist ein verlorener Tag.“

21 Uhr. Zurück in Norderstedt-Mitte, sind die Jugendlichen nirgends zu sehen. Dafür hat das Theaterstück gleich Pause, sagt der Mann am Einlass. Noch liegt das Foyer verwaist, mit seinem schweren, dunklen Teppichboden und der beängstigend niedrigen Decke sieht es aus wie in einem der älteren Casinos von Las Vegas, nur ohne Spielautomaten. Auf einem Plakat steht, dass im April ein Elvisimitator kommt. Die Lüftungsanlage summt, junge Kellner putzen Gläser. Dann gehen die Türen auf.

Nach dem Wahlkampfpodium in der Kirche ist dies der zweite Ort mit einer größeren Menschenansammlung. 400 bis 500, schätzt der Mann am Einlass. Es sind die Kulturbürger von Norderstedt. Routiniert halten sie ihre Sektgläser, vor den fettigen Brezeln schützen sie sich mit blauen Papierservietten und sagen Sätze wie: Die Akustik war aber nicht so gut“ oder: „Das war aber ganz schön dick aufgetragen“.

„Sie haben mich vorher nach dem Weg gefragt“, tritt eine Dame, roter Kunstpelz, näher. „Hier an der U-Bahn ist ja der soziale Brennpunkt“, sagt die Dame und fügt hastig hinzu: „Aber ich habe nichts gesagt.“ Vielleicht ist es heute Abend schon zu spät für die Jugendlichen aus Norderstedt, oder sie sind nach Hamburg gefahren. Jedenfalls ist draußen immer noch niemand von ihnen zu sehen.

Zwei U-Bahnstationen weiter, im Ortsteil Garstedt, hat das Herold-Center bereits geschlossen. Offen haben der Burger King (drei Jugendliche, essend) und eine Bar (fünf Jugendliche, flirtend). In den Hochhäusern brennt Licht. Es ist 22 Uhr.