„Wir wollen der Stein des Anstoßes sein“

BILDUNGSSTREIK Heute wollen tausende Schüler, Studierende und Lehrende demonstrieren. Die taz fragt, warum – oder warum nicht

Die Bildungsstreik-Demo beginnt um 11 Uhr vor dem Roten Rathaus. Was wollen die überhaupt?

■ die Abschaffung jeglicher Gebühren für Bildung von der Kita- bis zur Studiengebühr

■ die öffentliche Finanzierung des Bildungssystems

■ Stärkung der Mitbestimmung in allen Bildungseinrichtungen

■ die Abschaffung des mehrgliedrigen Schulsystems zugunsten der Gemeinschaftsschule

■ die Abschaffung des „G 8“-Abiturs nach acht Oberschuljahren

■ die Abschaffung des Bachelor und „ein Ende der Verschulung“

■ die Verbesserung der Lern- und Lehrbedingungen AWI

 Sabrina Apicella, Studentin:

Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, auf die Demonstration zu gehen. Vor allem geht es darum, die Fast-Food-Universität abzuschaffen. Lernen braucht Zeit und die gibt es beim Bachelor nicht. An manchen Tagen habe ich nicht einmal Zeit zum Mittagessen, weil ich nur durch die Gegend hetze.

Felix Schulz, Schüler:

Schon nach der sechsten, teilweise nach der vierten Klasse findet eine Selektion statt. Lehrer, also Menschen, die einen kaum kennen, entscheiden darüber, ob man später zur Elite gehört oder aussortiert wird. Das ganze System beruht auf sozialer Selektion. Dazu gehören auch Noten, die später über die Chancen am Arbeitsmarkt entscheiden. Ich glaube, der Streik kann zum Nachdenken anregen. Wir wollen der Stein des Anstoßes sein.

Wolfgang Harnischfeger, Schuldirektor:

Ich halte die Ziele des Streiks überwiegend für richtig – vor allem, dass die chronische Unterfinanzierung des Bildungssystems angeprangert wird. Ich bin allerdings ein Befürworter des Abiturs nach acht Oberschuljahren, jedenfalls am Gymnasim. An der im Zuge der Schulreform geplanten Sekundarschule das Abitur nach neun Jahren anzubieten, finde ich sehr richtig.

Inge Hirschmann, Grundschulverband:

Ich habe großes Verständnis für diejenigen, die am Ende der Belastbarkeit sind und nun auf sich aufmerksam machen. Die Situation an den Unis ist nicht lernförderlich, es gibt viel zu wenig Betreuung für zu viele Studierende. Was die Forderungen der SchülerInnen zur Abschaffung von G8 betrifft: Das sollte nach meinem Verständnis eine individuelle Freiheit sein.

Simon Baucks, Schüler:

Ich gehe zur Schülerdemo, weil das Bildungssystem stark verbesserungswürdig ist. Die Regierung pumpt Milliarden in die Rettung von Banken und Konzernen, in die Bildung fließt dagegen viel zu wenig. Zudem bin ich gegen das Turboabi in acht Jahren, für kleinere Klassen und für ein individuelles Lernen und mehr Partizipation der Schüler.

André Schindler, Landeselternausschuss:

Den Bildungsstreik halte ich im Bereich Hochschule für unterstützenswert, im Bereich Schule allerdings nicht. Denn der zielt zu sehr auf ein eingliedriges Bildungssystem und die Abschaffung der Gymnasien.

Kathrin Wiencek, Philologenverband:

Ich unterstütze den Bildungsstreik nicht, weil bessere Bildung kein Tummelplatz für linke Ideologen sein sollte, die begeisterungsfähige Jugendliche oder junge Erwachsene für ihre Ziele einspannen.

A. R; Schülerin:

Ich mache nicht mit bei der Demo, weil ich das Ganze unreflektiert finde. Viele gehen da hin und schreien einfach nach, was ihnen vorgeschrien wird, ohne dass sie sich wirklich mit den Themen beschäftigt haben. Außerdem gibt es völlig sinnfreie Forderungen wie die 1.000 Euro Schulgeld. Klar, ich bin auch gegen das achtjährige Gymnasium, aber da arbeite ich lieber kontinuierlich an den Themen, zum Beispiel als Schülersprecherin, als dass ich einmal im Jahr zu einer Demo gehe.

Dietrich Henckel, TU-Professor für Stadt- und Regionalökonomie:

Das Anliegen der Streikenden unterstütze ich im Prinzip. Man kann sich nicht immer Forschung und Bildung auf die Fahnen schreiben, dann aber genau in diesen Bereichen kürzen. Außerdem halte ich den Beschleunigungswahn im Bildungssektor für sehr fragwürdig. Ich stelle fest, dass Diplomstudenten sehr viel selbstbestimmter studieren und Bachelorstudenten sich sehr viel stärker an Vorgaben orientieren. Streiken werde ich nicht. Beamte haben kein Streikrecht. Ich werde aber versuchen, auf die Demo zu gehen.

Sven Chojnacki, FU-Professor für Politikwissenschaft:

Ich unterstütze den Streik, weil die negativen Folgen der Bologna-Reform vor allem beim Bachelor mit kreativen Lösungen aufgefangen werden müssen und die Lehr- und Betreuungssituation an den Hochschulen keine weiteren Einschnitte verträgt. Studierende und Lehrende sitzen hier letztlich in einem Boot.

Gottfried Ludewig, Bundesvorsitzender des RCDS:

„Das ganze System beruht auf sozialer Selektion. Dazu gehören auch Noten“

FELIX SCHULZ, SCHÜLER

Ich werde nicht an der Demo teilnehmen, weil ich nicht glaube, dass sich auf diesem Wege etwas nachhaltig verändern lässt.

Florian Bensdorf, Schüler:

Das Bildungssystem ist derzeit unsozial und ungerecht, weil die soziale Herkunft entscheidend ist. In einem idealen System gäbe es eine Schule für alle und die Schüler könnten demokratisch mitbestimmen. Das Totschlagargument der Mittelknappheit hat sich spätestens jetzt als vollkommene Farce entlarvt, wo Milliardenbeträge in die Banken gepumpt werden.

Jochen Pfeifer, Schulleiter:

Ich befürworte die Anliegen der Schüler und Studenten, wenn es darum geht, mehr Ressourcen in die öffentliche Bildung fließen zu lassen. Aber ich bedauere es, dass die falschen Leute hinter dem Streik stehen, die ihr eigenes Revolutionssüppchen kochen und ganz andere Ziele verfolgen als die Schüler. Einige Forderungen halte ich zudem für falsch. So das utopische Schulgeld oder auch diese antikapitalistische Stoßrichtung.

Simon Laveck, Student:

Der Bachelor muss eindeutig reformiert werden. Man braucht mehr Zeit, mindestens acht Semester. Außerdem müssen kritische Wissenschaften wieder angeboten und gefördert werden. Es kann nicht sein, dass man als Wissenschaftler das kapitalistische System nicht in Frage stellen darf. Man muss zumindest darüber nachdenken, welche anderen Formen des Zusammenlebens es gibt. STA, SVE, UDI, GIW, AWI, PW