Leider mit dem falschen Schlamm

Der spanische Performancekünstler Santiago Sierra lässt 320 Kubikmeter Erde und Torf in die Ausstellungsräume der Hannoveraner Kestnergesellschaft schaufeln und will damit die Anlegung des Maschsees durch zwangsverpflichtete Notstandsarbeiter thematisieren. Und die Massenarbeitslosigkeit

von Kerstin Fritzsche

„Haus im Schlamm“ heißt die Installation. Dabei ist es eigentlich umgekehrt: Der Schlamm ist ja im Haus; die kalkweißen Wände, die sonst Leinwände tragen, sind nun unter Sicherheitsabdichtungen und Teichfolie verborgen und haben die schwere Last des Morasts zu ertragen: Zwei Räume in der Hannoveraner Kestnergesellschaft hat der spanische Performancekünstler Santiago Sierra unter Schlamm und Torf gesetzt. Eine schockierende Abwertung des sonst so klinisch sauberen Ausstellungsraums. Dabei will Sierra gar nicht schockieren. „Schock ist ein fundamentaler Bestandteil dieser Welt“, sagt der 38-Jährige. „Das können die Medien besser als ich.“ Wichtig ist ihm dagegen die politische Komponente der Installation. Und die hat mit dem Maschsee zu tun.

Was wäre die niedersächsische Landeshauptstadt ohne ihren Maschsee? Neben der Eilenriede ist der künstliche See im Westen der Stadt das beliebteste Ausflugsziel der Hannoveraner. An einem sonnigen Wochenendtag rollen hier Massen von Kinderwagen und Inlinern, ist das Wasser von weißen Segeln verdeckt. Doch seine Entstehung gehört zu den dunklen Kapiteln der Stadtgeschichte. Als Vorzeigekampfprojekt gegen die Massenarbeitslosigkeit wurde die Anlegung des Maschsees Anfang der 1930er-Jahre von den Nationalsozialisten ideologisch vereinnahmt. So genannte Notstandsarbeiter mussten das Bassin vor 69 Jahren anlegen. Dabei wurde damals bewusst auf den Einsatz von Maschinen verzichtet, um die Wertschöpfung für das Volksgut ganz „der bloßen Hände Arbeit“ zu überlassen.

Darauf bezieht sich Sierra und ursprünglich hätte der Schlamm für seine erste große Einzelschau in Deutschland auch wirklich aus dem Maschsee kommen sollen. Aber das ging nicht: „Wegen gesundheitlicher Risiken aufgrund von Bakterienbildung“, bedauert Kuratorin Hilke Wagner. Jetzt kommt er von der Bad Nenndorfer Kurklinik und wird nach der Ausstellung den Herrenhäuser Gärten zugeführt.

Der Wert der Arbeit ist seit jeher ein zentrales Thema Sierras. Radikal politisch sind sämtliche seiner Happenings, Performances und Installationen. So färbte er bei der Biennale in Venedig 2001 gegen Bezahlung 133 aus Afrika, Asien oder Osteuropa stammenden, dunkelhaarigen Männern die Haare blond und machte damit die Immigranten zu „Europäern“. 2003 sorgte er ebenfalls auf der Biennale in Venedig für Aufsehen, weil er den Zugang zum spanischen Pavillon zumauern und nur Besucher mit gültigem spanischen Pass eintreten ließ.

„Für die Arbeiter hat die Arbeit, die sie leisten, immer einen Sinn, ganz individuell“, sagt der Spanier. Und setzt mit Marx fort, dass dagegen der Tauschwert der Arbeit eine gesellschaftliche Bedeutung zuschreibe und sie zum Machtfaktor mache. So entstehe Ausbeutung.

Besondere Schärfe gewinnt Sierras Kunst dadurch, dass er für sie die Methoden aufgreift, die er kritisiert. Mit dem Einsatz von bezahlten Menschen in seinen Installationen schafft er soziale Skulpturen, ohne bloß die Wirklichkeit im Kunstkontext zu reproduzieren.

Deswegen hat „Haus im Schlamm“ leider nicht dieselbe Wirkung. Zwar verweisen ein umgekippter Schubkarren und ein Paar liegen gelassene Handschuhe auf die menschliche Arbeit. Zusätzlich hinterlassen – ausdrücklich erwünscht – die Besucher überall im Haus braune Fußabdrücke.

Aber der Schlamm kam eben nicht, wie ursprünglich geplant, durch die Verpflichtung von Ein-Euro-Jobbern ins Haus, sondern bequem per Kurierfahrer. Und er ist, bei aller Aggressivität, auch irgendwie schön, mit seinen spiegelnden Oberflächen. Da zieht sich dem Betrachter auf den ersten Blick ein bisschen der Magen zusammen ob der Entwertung des heiligen Kunstraums. Beim Wochenendausflug zum „richtigen“ Maschsee ist das aber schnell wieder vergessen. Und ach so, ja, die Massenarbeitslosigkeit heute, was war damit?

Santiago Sierra: Haus im Schlamm, Kestnergesellschaft, Goseriede 11, Hannover. Täglich außer montags, 10–19 Uhr, donnerstags auch bis 21 Uhr. Bis 10. April. Weitere Infos unter www.kestner.org.