Am Ende der Welt

KUNST UNTER NULL Wussten Sie, dass immer wieder Künstler in den antarktischen Forschungsstationen gastieren? Was bei solchen Aufenthalten herauskommt, zeigt jetzt die Kieler Stadtgalerie in der Ausstellung „Gefrorene Zeit“

Wo einst Zehntausende von Blauwalen zersägt und zerkocht wurden, erstreckt sich heute eine Trümmerwüste

VON FRANK KEIL

Können Bibliotheken Leben retten? Und das auch noch in der Antarktis, wo auch im Sommer Temperaturen von zwanzig, dreißig Grad unter Null vorkommen können? Vielleicht, wenn einer, der noch eben durch den Schneesturm irrte, plötzlich in der Ferne eine signalrote Fläche sieht: das Dach eines Norm-Containers, dessen Seitenwände in verschiedenen Grüntönen gehalten sind. Farben, die in der Antarktis eigentlich nichts zu suchen haben.

Ins Innere des nie verschlossenen Containers eingetreten, käme der so Gerettete wohl ins Staunen: Ihn empfinge tatsächlich eine Bibliothek, mit Teppichboden und angenehm indirekt beleuchtet, wohlig beheizt, mit Lesesessel, Sofa und hübschen Regalen, Kirschholz, bestückt mit mehr als 1.000 Bänden.

„Eine Bibliothek im Eis“ heißt dieses Projekt, mit dem der Kölner Lutz Fritsch nun an der Ausstellung „Gefrorene Zeit – Kunst aus der Antarktis“ beteiligt ist: Es ist eine filmische Dokumentation von der Konzeption bis zum Aufbau des Containers nahe der deutschen Forschungsstation Neumayer.

Überhaupt, Forschungsstationen: Davon gibt es mittlerweile knapp 50 in der Antarktis, und dass sich dort in den vergangenen Jahren immer wieder mal diverse Künstler und -gruppen aufgehalten haben, davon kündet diese Übersichtsausstellung. Sie erlebte ihre Premiere in Ushuaia, der südlichsten Stadt Argentiniens, machte Halt in Rio des Janeiro und São Paulo. Und nun ist die einzige Station außerhalb Südamerikas – Kiel: „Von einem Ende der Welt ging’s ans andere“, wie Stadtgalerie-Direktor Wolfgang Zeigerer gerne witzelt.

Dabei kreist ein Großteil der Arbeiten um die Erfahrung, sich real in einer Welt zu bewegen, die fremdartiger kaum sein kann, während wir doch zugleich über einen Fundus an medial vermittelten Bildern verfügen: Schnee und Kälte, Einsamkeit und Unendlichkeit und Tod.

Simon Faithfull lässt uns so mittels seiner Videoinstallation „44“ ebenso viele Minuten lang durch ein Bullauge blicken, das mal an einen Guckkasten, mal an eine Pupille erinnert, kurz auch an einen Radarschirm – eine meditative Reise durch die antarktische See mit mal nebelverhangenen, mal sonnenbeschienenen Eisbergen. Und schließlich, ebenso beharrlich, über Land: Auf kahlen Fels und eisverkrustete Flächen folgt eine der Forschungsstationen, deren Bewohner sich kurz im fahlen Licht der Außenlampe zeigen.

Frank Halbig aus Karlsruhe lässt das Helios Streichquartett vor einer Leinwand aufspielen, die wiederum vordergründig typische Antarktisimpressionen zeigt. Die Grundlage für Halbigs atonale Komposition für zwei Violinen und zwei Celli allerdings liegt in der unsichtbaren Tiefe verborgen: Es sind in Eisbohrkernen entdeckte Luftblasen und die dort gemessenen Emissionen früher Vulkanausbrüche, die da in Noten übersetzt werden – und die stetig zunehmenden Schadstoffniederschläge.

Noch einen Schritt weiter in Richtung Zukunft geht das Projekt „Icepac“, mit initiiert vom südafrikanischen Künstler Thomas Mulcaire, zugleich Kurator der Ausstellung. Er hat mit Kollegen wie der Fotografin Erika Blumenfeld eine mobile, ökologisch fundierte Skulptur konzipiert und aufgebaut. Sie ist einerseits Veranstaltungszelt für Vorträge und Diskussionsabende – über Kunst etwa.

Zugleich versteht sich „Icepac“ als Beweis dafür, dass gerade in der Antarktis die Zukunft im Einsatz erneuerbarer Energien besteht, statt weiterhin jeden Tag Hunderte von Litern Diesel zu verbrennen, um den Aufenthalt in eisiger Umwelt zu ermöglichen: Das Zelt ist mit Sonnenkollektoren bestückt und zugleich dank seiner speziellen Außenhaut so konzipiert, das gewonnene Wärme optimal gespeichert wird. „Im Inneren bekommen wir so Temperaturen von bis zu 25 Grad Celsius“, sagt Mulcaire, „mindestens aber hat es zehn bis fünfzehn Grad“.

Gleich 50 Iglus hat das Künstlerduo Jorge und Lucy Orta aus Handschuhen, Zeltplanen und den Flaggen aller Länder dieser Erde fabriziert: Die Arbeit „Antarctic Village – No Borders“ beharrt darauf, dass die Antarktis allen gehört – und damit niemandem.

Apropos Spuren einstiger Herrschaftsambitionen: Der Titel „We climbed round a final ridge and saw a whaling boat entering the bay 2500 ft below“, ebenfalls von Simon Faithfull, beruht auf einem Zitat des Südpolforschers Ernest Shackelton (1874 – 1922); über dessen Expedition (1914 – 1916) sich auch in der Bibliothek von Lutz Fritsch einiges finden dürfte. Faithfull jedenfalls ist zu einer 1965 aufgegeben Walfangstation auf der Insel Südgeorgien zurückgekehrt. Was er von dort mitbrachte, sind Bilder, die einem lange im Kopf herumgeistern werden: Wo einst Zehntausende von Blauwalen zersägt und zerkocht wurden, wo man beinahe den gesamten antarktischen Bestand an Fellrobben vernichtete und wo die Arbeiter ihre Öfen mit Pinguinen befeuerten, erstreckt sich heute eine Trümmerwüste aus verrosteten Gleisen, umgekippten Tanks und zerfallenen Hallen.

Längst wird diese Welt wieder von Robben, Seehunden und Seeelefanten bevölkert, die in verfallenen Waschräumen Schutz suchen. Allerdings nicht als putzige Gesellen: Aufgeschreckt fauchen sie barsch in die Kamera und bedeuten dem Zuschauer, besser zu verschwinden.

bis 30. August, Stadtgalerie Kiel