Die Liberalen spielen Kalter Krieg

In Schleswig-Holstein wählen die Menschen am Sonntag nicht nur eine neue Landesregierung, sondern vielleicht auch eine neue Schule. Denn Rot-Grün hat aus politischen und finanziellen Gründen einen Versuchsballon steigen lassen: die Schule für alle. Mit den erwarteten Reaktionen bei der Opposition

Ihre Umfrage nahm die CDU wieder aus dem Netz: 72,2 Prozent sprachen sich nämlich für die Gemeinschaftsschule aus

AUS HAMBURG SANDRA WILSDORF

Hut oder Bart, Volkswirtin oder Landwirt, Schule für alle oder Abitur nach zwölf Jahren: Die Schleswig-Holsteiner entscheiden am 20. Februar nicht nur darüber, ob der Christdemokrat Peter Harry Carstensen die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Heide Simonis ablösen soll, sondern auch über die Zukunft ihrer Schulen. So jedenfalls behaupten die Politiker.

Denn Rot-Grün hat das Thema Bildung neben der Arbeitslosigkeit zum wichtigsten Wahlkampfthema erklärt und lässt im nördlichsten Bundesland einen Versuchsballon steigen – die „Schule für alle“. Unterstützt wird die Regierung dabei vom Südschleswigschen Wählerverband (SSW), der die Gemeinschaftsschule seit langem für die bessere hält. CDU und FDP halten heftig dagegen. Wie umstritten das Thema im Wahlkampf ist, zeigte auch gestern Abend die hitzige taz-Diskussion in der Kieler Pumpe.

Die SPD wirbt für eine zehnjährige Gemeinschaftsschule in Kooperation mit der offenen Ganztagsschule. Das ist zum einen ihre Antwort auf das erneut schlechte Abschneiden der früh ausgelesenen deutschen SchülerInnen bei Pisa II, zum anderen aber auch Pragmatismus. Denn in den ländlichen Regionen werden die Kinder knapp. Doch verprellen will die SPD natürlich auch niemanden. Und so lautet die sozialdemokratische Beruhigungsformel: Kein Urknall sei für den 21. Februar zu erwarten. Die Schule für alle sei vielmehr das Ziel eines bis zu fünfzehn Jahre dauernden Prozesses.

Die Grünen können da auf mehr Einigkeit mit ihrer Klientel hoffen und gehen die Sache deshalb forscher an. Ginge es nach ihnen, so würden sie gleich nach einem Wahlsieg die Totalrenovierung des Bildungssystems einleiten. Sie stellten kürzlich in Kiel schon mal Konzept und Fahrplan vor. Unter dem Motto „Klever starten – 9 macht klug“ wollen sie die Schularten durch einen gemeinsamen neunjährigen Bildungsgang ersetzen, an dessen Ende sich die Jugendlichen zwischen Berufsschule, Gymnasium oder Oberstufenzentrum entscheiden können.

Noch in diesem Jahr würden sie damit beginnen, den Bildungsauftrag der Kindertagesstätten zu stärken und die Zusammenarbeit mit den Grundschulen zu intensivieren. Innerhalb der nächsten fünf Jahre würden sie die Schulen mit weitgehender Autonomie ausstatten und das Sitzenbleiben abschaffen. Ab Sommer 2007 sollen die Oberstufen zu Oberstufenzentren zusammengeführt werden, ein Jahr später eine neue, flexible Oberstufe beginnen, in der SchülerInnen in zwei bis vier Jahren in einem Kurssystem ihr Abitur machen können. Damit würden auch die Voraussetzungen für das Verkürzen der Schulzeit auf zwölf Jahre geschaffen.

Die Grünen wollen auch aus Kostengründen auf die Tube drücken. Denn je länger die Übergangsphase dauert, desto teurer wird sie. Einsparungen durch das Abschaffen des Sitzenbleibens und das Verkürzen der Schulzeit auf zwölf Jahre zahlen sich erst mittelfristig aus.

Für die CDU ist die „Einheitsschule“, wie sie sie nur nennt, der totale Schrecken. Sie will im Falle eines Sieges am dreigliedrigen Schulsystem festhalten, 650 neue Lehrer einstellen, das Zentralabitur nach zwölf Jahren einführen und außerdem zentrale Tests. Großes Vorbild: Baden-Württemberg. Die Schleswig-Holsteiner halten jedoch nicht allzu viel von dieser Idee. Eine Internet-Umfrage zu dem Thema nahm die CDU schon nach einem Tag wieder von der Homepage – die Ergebnisse passten nicht: 72,2 Prozent hatten sich nämlich für die Gemeinschaftsschule ausgesprochen. Vor allem die Grünen reagierten mit Spott, die CDU grummelte von Hinweisen des Missbrauchs der Abstimmungsmöglichkeit durch den politischen Gegner. Jetzt sammelt die CDU Unterschriften gegen die Reform – laut einer Infratest-dimap-Umfrage im Auftrag des NDR lehnten jedoch 57 Prozent der Befragten die Aktion ab, unter den Bürgern mit schulpflichtigen Kindern waren es sogar zwei Drittel.

Als Teil der Kampagne „Rettet unsere Schulen! Jetzt!“ legte die CDU in der Endphase des Wahlkampfes nach. Mit der Ansage „Wir werden die Menschen darüber aufklären, was wirklich geschieht“, legte Schatten-Schulminister Jost de Jager (CDU) eine Liste mit 178 Schulen vor, die angeblich im Fall eines rot-grünen Wahlsieges „in Kürze“ zu Einheitsschulen zusammengefasst würden. Das Schulministerium dementierte umgehend: Das CDU-Schreckensbild der Einheitsschule diene dazu, Eltern und Schüler zu verunsichern. „Es gibt keine Liste von Schulen, die zwangsweise in Gemeinschaftsschulen umgewandelt werden sollen.“

Und dann ist da ja noch die FDP. Sie stellt die Gemeinschaftsschule als DDR-Modell dar. In Anlehnung an das Parteiabzeichen der SED zeigt die Kampagne einen rot-grünen Händedruck mit der Aufschrift: „Keine Einheits-Schule“. Im Übrigen unterstellt Spitzenkandidat Wolfgang Kubicki, die Landesregierung wolle mit ihrer Systemdebatte nur von Unterrichtsausfällen ablenken. Das Land solle schlicht mehr Lehrer einstellen.

Auch unter den Lehrern verlaufen die üblichen Fronten: Während die GEW die Schule für alle unterstützt, fordern die Verbände der Gymnasial- und Realschullehrer in Schleswig-Holstein eine bessere Förderung der bestehenden Schulsysteme und eine „Schule nach Maß“ statt einer „völlig undifferenzierten Einheitsschule“.

Nach den jüngsten Umfragen liegt Rot-Grün knapp vor Schwarz-Gelb. Die derzeitige Debatte ist eine Kostprobe für die Auseinandersetzungen, die es bei einem Bundestagswahlkampf mit dem Themas Bildung gäbe. Ob PolitikerInnen einen solchen wagen, hängt auch vom Ausgang der Wahl in Schleswig-Holstein ab.