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: Kinder im KZ

60 Jahre Kriegsende, 60 Jahre Befreiung von Auschwitz. Stapelweise gehen Geschichten darüber in Druck oder auf Sendung. Und kein Walser weit und breit, der dahinter eine sich heiß laufende, aber im Herzen erkaltete Erinnerungsmaschinerie vermutet. Die letzten Zeitzeugen bekommen das Wort, und jeder spürt, dass das nächste Gedenken in zehn Jahren ohne die meisten von ihnen wird auskommen müssen.

In diesem Großaufgebot sind es ausgerechnet zwei Jugendbücher, die herausragen. Eines davon ist Klaus Kordons Roman „Julians Bruder“, ein mehr als 600 Seiten umfassendes Geschichtswerk, das 1933 beginnt und 1945 immer noch nicht endet. Denn die Freunde Julian und Paul – Jude der eine, aus sozialdemokratischem Hause der andere – sind mit der Befreiung noch lange nicht frei, sondern kommen unter dem Verdacht der Spionage nach Buchenwald. Fast übergangslos ist aus dem KZ ein sowjetisches Internierungslager geworden.

Das zweite Buch ist anders als Kordons herzzerreißende Geschichte einer Freundschaft, die sogar im täglichen Überlebenskampf noch hält, kein Roman. In „Wir Kinder von Bergen-Belsen“ erzählt Hetty Werkendam ihre Geschichte. Sie überlebte im berüchtigten Kinderhaus des KZ in der Lüneburger Heide, während nur wenige Meter entfernt die berühmte Anne Frank wenige Tage vor Kriegsende starb. Ein englischer Soldat hatte sie gleich nach Kriegsende gebeten, ihre Erlebnisse aufzuschreiben, und diese Aufzeichnungen dienten nun als Vorlage für das Buch. Und so kommt es, dass die Geschichte zwar von der erwachsenen Hetty, die seit langem in Australien lebt, herausgegeben und von Mirjam Pressler aus dem Englischen übersetzt wurde, im Grunde aber ein echtes Jugendbuch ist, erzählt von einer Fünfzehnjährigen. Nur der Verlag sieht das anders und lässt den Titel im Erwachsenenprogramm laufen.

Die wahre Geschichte von Hetty und die erfundene, wenngleich auch auf vielen Recherchen beruhende von Kordon haben erstaunlicherweise viel gemeinsam: Zum einen schildern sie die Grausamkeiten des Krieges und des Lagerlebens ausführlich und ohne Scheu, so etwas den Jugendlichen zuzumuten. Läuse und Leichenberge, Hunger und Sadismus der Aufseher, das stundenlange Appellstehen bei Regen und Schnee, das jedes Mal Leben kostete – erspart wird einem nichts. Doch auch wenn die Menschen schon halb tot sind, gibt es welche, die noch zarter Gefühle fähig sind. Wie schafften es die Kinder von Bergen-Belsen, wie schafften es Paul und Julian bloß, inmitten der Brutalität noch mitfühlend und offen für das Gute zu bleiben? Das ist das Rätsel, das beide Bücher aufgeben.

Denn die Kinder von Bergen-Belsen waren in einer Weise fürsorglich und tröstend zueinander, dass es einem wie ein Wunder vorkommt. Unterstützt von Luba, einer polnischen Gefangenen, die selber Kind und Mann verloren hatte, und umsorgt von Hetty, der Ältesten, teilten die Verhungernden sogar das rare Essen. Zwar schnitt Hetty das Brot für ihre Brüder etwas dicker, aber ansonsten wurde das Wenige gerecht geteilt. Wie in einer großen Familie ging es im Kinderhaus zu, sogar Freundschaften entstanden. In Kordons Roman ist das im Prinzip ähnlich, als sich Paul im Internierungslager in ein Mädchen verliebt. Und während Julian zu Tode kommt, werden Paul und Elfie später heiraten, sie haben Kinder und wollen vor allem eines: das ganze vergangene Elend vergessen. So wie Hetty. Die hatte in allem Unglück auch Glück gehabt, denn ihre Eltern und Brüder überlebten und fanden nach dem Krieg in Amsterdam wieder zusammen. Aufatmen und leben, sonst nichts, hieß damals das Motto dieser Davongekommenen.

ANGELIKA OHLAND

Hetty E. Verolme: „Wir Kinder von Bergen-Belsen“. Aus dem Englischen von Mirjam Pressler. Beltz Verlag, Weinheim und Basel 2005, 344 Seiten, 22,90 EuroKlaus Kordon: „Julians Bruder“. Beltz & Gelberg, Weinheim 2004, 628 Seiten, 18,90 Euro