Ein Bild von Zerrüttung

Im Mordprozess gegen eine Türkin, die den Mann erschoss, zeichneten die Kinder ein beklemmendes Bild ihres Familienlebens. Auf 60 Quadratmetern Wohnfläche lieferten sich die scheidungswillige Frau und ihr despotischer Ehemann ständig Streit

bremen taz ■ Die Schwester des Erschossenen, zugleich Nebenklägerin im Mordprozess gegen ihre Schwägerin Ayse B., wird den Eltern in Izmir eine schwere Botschaft überbringen müssen. Die nämlich, dass der von der Ehefrau erschossene Bruder nicht der nette Mann war, für den ihn die Familie hielt. Die Schwester dürfte nach den Aussagen der Kinder vom Ausmaß der Zerrüttung im Haus des Bruders erschüttert sein. Sehr offen sagte sie: „Sein Tod tut mir weh.“ Sie habe von seiner Unzufriedenheit in der Ehe gewusst und zur Scheidung geraten. Aber sie empfinde auch Mitgefühl für die Schwägerin, die in der arrangierten Ehe nie wirklich glücklich gewesen sei.

„Mein Vater war ein Mensch, der nie Kinder hätte haben sollen“, urteilte dessen älteste Tochter am gestrigen zweiten Verhandlungstag vorm Landgericht. Er habe die Mutter bedroht und geschlagen, bestätigte die 20-Jährige die Aussagen der angeklagten Mutter. „Er wollte nicht, dass sie glücklich wird“, analysierte die Studentin die Schikanen des Vaters gegen die heute 42-jährige Ayse B. Aber er wollte sie auch nicht gehen lassen.

Auch die zweite Tochter, eine 16-jährige Schülerin, gab an, öfters gehört zu haben, wie der Vater die Mutter im Nachbarzimmer schlug und mit dem Tod bedrohte. Sie nehme der Mutter die Tat nicht übel. Aber wie die Schwester vermisse sie den Vater – einen aufbrausenden, strengen Choleriker, der den Umgang mit Menschen mied.

Die Zeugenaussagen der drei Kinder des Paares, darunter auch des 18-jährige Sohnes, hinterließen gestern den Eindruck von einer verstörten Familie – die nach außen aber bis zur Tatnacht intakt schien. So war der Vater bis zur Tatnacht im September, als die Frau ihn nach sechstündigem Streit voller Beleidigungen und Drohungen im Schlaf erschoss, berufstätig gewesen. Er hatte „materiell“, wie die Töchter betonen, für alles gesorgt – die drei Heranwachsenden aber bis zuletzt in einem einzigen Zimmer schlafen lassen. Ein anderer Raum in der 60 Quadratmeter-Eigentumswohnung stand derweil mit seinem Gerümpel voll, die Eltern schliefen im Wohnzimmer. Doch menschlich verband Vater und Kinder nichts.

Auf die Fragen des psychiatrischen Sachverständigen konnte sich keines der Kinder an freudvolle Zeiten mit dem Getöteten erinnern – und doch beschrieb der 18-jährige Sohn das Familienleben krampfhaft als „normal“ und den Vater als „nett“. Wie das ausgesehen haben muss, erbrachten Nachfragen des Sachverständigen: Nein, der Vater habe mit dem Sohn nie gebastelt oder Zeit verbracht, nein er habe ihm nicht gesagt, dass er stolz auf ihn sei oder Hoffnungen in ihn setze. Aber von Schlägen wisse er nichts, nur von Streit mit der Mutter. ede