Lesetipp

Vom Lauf der Welt

Wie kommt ein Yin-Yang-Mosaik in eine römische Villa, als Fragment ausgestellt in einem tunesischen Museum? Vermutlich genau auf demselben Weg wie Gewürze, Glas, Papier und nicht zuletzt Seide, wie all die Waren und Ideologien, Religionen, aber auch Epidemien von China aus in den Westen gelangten und vice versa. Die Seide war es, die den deutschen Geografen Manfred von Richthofen im 19. Jahrhundert dazu anregte, diesem weit verzweigten Handelsnetz den Namen „Seidenstraße“ zu verleihen. Die neue Ausgabe der Zeitschrift du lehnt sich an diesen Begriff und benutzt den Plural „Die Seidenstraßen“. Vielfältiger Natur sind auch heute noch die ökonomischen und kulturellen Verflechtungen in dieser Region, die wiederum zum geopolitischen Spielball wird. Man denke an die Militärbasen der Westmächte in Usbekistan, von wo aus das Taliban- Regime in Afghanistan bekämpft wurde, oder an Chinas Hunger nach Rohstoffen. Der Islam als „Kitt der Nationen“ sei die einzige ernst zu nehmende Opposition, so der französische Islamwissenschaftler Olivier Roy, nachdem die demokratische Opposition in den jeweiligen Staaten fast ganz ausgeschaltet wurde.

„Das Interesse an Tatsachen selbst da, wo sie uns aus Träumen holen“, sei das Ansinnen dieses Heftes, steht im Editorial. Die Reise beginnt in Samarkand, ein Name, der von jeher unterschiedlichste Fantasien anregte. Hier, im „Brennglas der Kulturen“, kreuzten sich die Wege der Händler und Geschichtenerzähler, der Spione und Missionare. Heute beherrschen Wohnsilos und Fabrikanlagen die 400.000 Einwohner zählende Stadt – symptomatisch auch für andere Städte entlang der Seidenstraße, insbesondere an derem chinesischem Ende. Nur noch der Klang ihrer Namen verzaubert: Kaschgar, Turfan, Taklamakan. Karge Gerölllandschaften, öde Gebirgspässe vor gewaltigen Bergmassiven, Lastwagen mit Schrottladungen für China hat der Schweizer Fotograf Daniel Schwartz festgehalten; dann aber wieder fängt er so farbig-schrille Marktszenen ein wie eine Frau in flammend-orangefarbenem Kleid vor an Haken aufgehängtem rotem Fleisch in einem kirgisischen Marktstand. Die Gegensätze sind atemberaubend schön.  ALICE GRÜNFELDER

„Die Seidenstraßen. Vom Lauf der Welt“. In: „du. Zeitschrift für Kultur“, Nr. 1, Februar 2005; 12 €