Hartz IV heilt Krebskranke

Krankenkassen melden, dass Bezirke Schwerkranke für erwerbsfähig erklärt haben. Um Geld zu sparen, sagt Clement. Berlins Behörden halten seine Komplottidee für absurd

Müssen Komapatienten demnächst samt Bett ins Jobcenter gerollt werden? Eine absurde Debatte, losgetreten von Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD), ist im Abgeordnetenhaus angekommen: „Dass in Berlin wissentlich nichterwerbsfähige Betroffene ins Arbeitslosengeld II abgeschoben wurden, weise ich zurück“, sagte Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (PDS) gestern.

Clement hatte den Kommunen vorgeworfen, selbst Komapatienten oder Suchtkranke als erwerbsfähig deklariert zu haben, um sich finanziell zu entlasten (die taz berichtete). Das dann fällige Arbeitslosengeld II (Alg II) muss der Bund übernehmen, die Sozialhilfe zahlen Kommunen.

Die AOK Berlin bestätigte der taz, die Bezirke hätten im Zuge der Arbeitsmarktreform Hartz IV „eine dreistellige Zahl“ von schwer kranken BerlinerInnen für erwerbsfähig erklärt: „Bei deren Einstufung haben wir begründete Zweifel“, sagte eine Sprecherin. Man sei mitten in der Überprüfung.

Die AOK teilt Clements Verdacht, die Sprecherin nennt Beispiele: Ein bettlägeriger Heimbewohner, eingeordnet in die höchste Pflegestufe 3, sei unter den angeblich Erwerbsfähigen, ein Krebskranker im fortgeschrittenen Stadium, der einen Betreuer brauche, und ein Schwerstalkoholabhängiger mit Borderline-Syndrom. Auch die Techniker Krankenkasse berichtet von falschen Einstufungen: „Zum Beispiel wurden Leute angemeldet, die älter als 65 Jahre sind“, so eine Sprecherin. Die TK-Kundenberatungen melden mehrere Fälle kranker Kunden, die wundersam Erwerbsfähigkeit bescheinigt bekommen: „In Neukölln gab ein Bekannter den Neuaufnahmeantrag ab, weil der Kunde selbst bettlägerig war.“ Fazit: „Der Eindruck planvollen Vorgehens drängt sich auf.“

Gibt es also einen Masterplan der Bezirke, sich auf Kosten von Patienten, Bund und Krankenkassen zu sanieren? Völliger Unsinn, das sind Einzelfälle, ist – knapp zusammengefasst – die Reaktion der zuständigen Stellen Landesarbeitsagentur, Wirtschafts- und Sozialverwaltung. Christoph Lang, Sprecher der Wirtschaftsverwaltung, hält einen Komplott für absurd: „In ein, zwei Monaten werden offensichtlich falsch eingestufte Menschen doch in Bezirkszuständigkeit zurücküberwiesen.“ Laut Sozialbehörde haben 140.000 erwerbsfähige Erwachsene, die jetzt Alg II beziehen, im vergangenen Jahr ausschließlich von Sozialhilfe gelebt. „Wenn ein paar hundert falsch eingeordnet wurden, ist das kein Massenphänomen“, sagt Sprecherin Roswitha Steinbrenner.

Dass Betroffene in einem Verschiebebahnhof landen, liegt in der Natur von Hartz IV: Die Bezirke haben vor Jahreswechsel unter großem Zeitdruck entschieden, wer nach Sozialgesetzbuch II, Paragraph 8 „nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, […] mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.“ Hält man sich an den trockenen Text, gilt das – mehr fordern! – für viele Kranke. Für Einzelprüfungen, gar mit medizinischer Indikation, habe man schlicht keine Zeit gehabt, sagt Neuköllns Sozialstadtrat Michael Büge (CDU). Wer nicht einen Bescheid vom Rentenversicherungsträger oder vom Amtsarzt nachweisen könne, gelte laut Gesetz eben als erwerbsfähig.

Dass plötzliche Interesse der Krankenkassen an Arbeitsmarktpolitik ist kein Zufall: Für Stützeempfänger überweisen ihnen die Bezirke die Krankheitskosten komplett, der Bund für einen Alg-II-Empfänger aber nur eine Pauschale von 125 Euro pro Monat. ULRICH SCHULTE