Das unsichtbare Kind

In Jenfeld ließen Eltern ein siebenjähriges Mädchen verhungern. Niemand bekam es zu Gesicht, obwohl es längst hätte zur Schule gehen müssen

Der Fall zeigt, dass die Regeln nicht ausreichen oder nicht angewandt werden

Von Gernot Knödler

Nach dem Hungertod eines siebenjährigen Mädchens in Jenfeld haben Politiker aller Bürgerschaftsparteien eine umfassende Aufklärung des Falles und Konsequenzen gefordert. Am konkretesten äußerte sich CDU-Jugendexperte Marcus Weinberg: Würden Kinder nicht eingeschult, solle künftig ähnlich reagiert werden wie bei Schulschwänzern, die im Extremfall nach zwei Wochen von der Polizei zur Schule gebracht werden. Die GAL forderte eine gemeinsame Sondersitzung des Jugend- und des Sozialausschusses, bei der sich die Behörden rechtfertigen sollen. „Das ganze Ereignis ist kaum zu begreifen“, sagte die SPD-Abgeordnete Britta Ernst, die sich durch eine parlamentarische Anfrage Klarheit verschaffen will.

Jessica war am Dienstag im Bett ihrer Eltern im Koma an Erbrochenem erstickt – Folge einer langen Unterernährung, die das Mädchen auf 9,5 Kilo hatte abmagern lassen. Normal wären etwa 25 Kilo. Nach Erkenntnissen der Polizei ist das Kind isoliert aufgewachsen. Nachbarn gaben zu Protokoll, sie hätten von der Existenz des Mädchens gar nicht gewusst. Die Familie habe in ihrer 71-Quadratmeter-Wohnung unauffällig gelebt, sagt Saga-Sprecher Mario Spitzmüller: „Wir hatten keinerlei Hinweise aus der Nachbarschaft.“ Gegen die arbeitslosen Eltern ist gestern ein Haftbefehl wegen „gemeinschaftlichen Totschlages durch Unterlassen“ ergangen.

Auffallen können hätte der Fall der Schulbehörde, denn Jessica hätte ab August vergangenen Jahres zur Schule gehen müssen. Bereits zu Beginn des vorangehenden Jahres hätte das Mädchen einer Grundschule vorgestellt werden müssen. Dass das nicht geschah, scheint keine Folgen gehabt zu haben.

Im Februar 2004 hätte Jessica dann zur Schule angemeldet werden müssen. Nach Angaben der Behörde versuchte die Schule vergeblich, die Eltern zu erreichen, und schaltete die Regionale Beratungs- und Unterstützungsstelle (Rebus) ein. Mehrmals hätten Rebus-Leute die Wohnung aufgesucht und auch mit den Nachbarn gesprochen, sagt Thomas John von der Schulbehörde. Vergeblich: „Es gab nicht einmal einen Hinweis darauf, dass es dort ein Kind gab.“ Im April habe die Behörde schließlich ein Bußgeldverfahren eingeleitet, das die Landeshauptkasse abwickelt.

„Wieso hat keiner der Beteiligten erkannt, dass das Nichterscheinen des Kindes in der Schule ein Alarmzeichen war?“, fragt Christa Goetsch von der GAL. „Das Kind war ja gemeldet“, ergänzt ihre SPD-Kollegin Ernst.

Rebus müsse die Schulpflicht durchsetzen, bestätigt John. „Die Mitarbeiter sind davon ausgegangen, dass das Kind gar nicht mehr dort wohnt.“ Sie hätten vermutet, dass Jessica zu ihrem leiblichen Vater gezogen sei. John: „Es gab nicht die unmittelbare Notwendigkeit zu gucken, wo das Kind geblieben ist.“

„Dieser Fall zeigt, dass die existierenden Regeln nicht ausreichen oder nicht angewandt werden“, kommentiert Ernst. Dies sei umso fataler, als erst im vergangenen Sommer in Lohbrügge ein dreijähriges Kind an Vernachlässigung starb. Das Vorgehen der Schulbehörde sei „überhaupt nicht zu begreifen“. Weinberg und seine Fraktionskollegin Bettina Bliebenich verlangten ein früheres und konsequenteres Eingreifen in sozialen Brennpunkten. Aufgrund wachsender Anonymität und Verwahrlosung seien Kinder dort besonders gefährdet.

Gerade Jenfeld war jedoch 15 Jahre lang Objekt von Stadtentwicklungsprogrammen. Probleme gibt es nach wie vor, wie schon ein Blick in die Statistik mit knapp 16 Prozent Sozialhilfeempfängern und gut 51 Prozent Sozialwohnungen (jeweils 2003) offenbart. Der Stadtteil dürfe deshalb aber nicht stigmatisiert werden, warnt Bezirksamtsleiter Gerhard Fuchs (CDU). Er habe sich sehr positiv entwickelt.