Offener politischer Verkehr

Opposition und Bundeskanzler schreiben sich seit neuestem offene Briefe, um das Problem der Massenarbeitslosigkeit gemeinsam zu lösen. Das ist taktisch geschickt. Aber völlig unpolitisch

VON CHRISTIAN SEMLER

Der Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit, diese so heiß begehrte Ware, spornt die Parteien zu immer neuen inszenatorischen Anstrengungen an. Jetzt haben uns die Vorsitzenden von CDU und CSU mit einer Form des politischen Verkehrs überrascht, die bislang zwischen Opposition und Regierung völlig ungebräuchlich war: dem offenen Brief an den Bundeskanzler.

Offene Briefe erstrecken sich über die gesamte Flora der politischen Kommunikation und handeln von jedem nur denkbaren Thema. Sie folgen aber stets im Stil wie im Aufbau ehernen Gesetzmäßigkeiten. Der oder die Verfasser des offenen Briefes wenden sich an jemanden, der mächtiger, einflussreicher ist als sie selbst, um den Briefempfänger mit ihrer Position zu konfrontieren und zu einer öffentlichen Antwort herauszufordern. Sie tun dies kraft Anrede und Unterschrift als Gleichberechtigte. Wichtig ist, dass der Adressat einen Namen trägt. Der Brief an ihn, den Namensträger, suggeriert ein persönliches Verhältnis. Nicht nur seine Funktion, er selbst wird angesprochen.

Nehmen wir als Beispiel den offenen Brief, den 2002 Freunde der Bahn und Bahnexperten an den Vorstandschef der Deutschen Bahn AG schrieben, um gegen das neue (und später revidierte) Tarifsystem zu protestieren. Die Briefschreiber „befürchten“, sie „drücken ihre tiefe Sorge aus“, sie bitten „ihre Argumente abzuwägen“ und „weitreichende Modifikationen vorzunehmen“. Ziel des offenen Briefes der Bahnfreunde ist es, das Ansehen der Bahn und die Marktanteile des Schienenverkehrs zu erhöhen. Dies der Grundkonsens, der die Bahnfreunde mit Herrn Mehdorn verbindet. Die Verfasser treten als Kollektiv auf, das Sachverstand und politisches Engagement verkörpert. Das unterscheidet sie von individualisierten Beschwerden und Petitionen.

Auch der Merkel/Stoiber-Brief beschwört Konsens. „Sie und wir wissen“, dass in der Statistik Menschenschicksale nicht aufgehen. „Regierung und Opposition eint das Ziel“, Massenarbeitslosigkeit nicht hinzunehmen. Die Briefschreiber hoffen, „dass ein Sinneswandel (des Kanzlers) vielleicht doch denkbar wäre“ und sich die politischen Kräfte „zu einem grundlegenden Kurswechsel durchringen“.

Während der Erwägungs- und Bedenkstil des offenen CDU/CSU-Briefes sich durchaus an das überkommene Schema hält, enthüllen die in ihm aufgeführten Vorschläge eine paradoxe Situation. Denn was Stoiber und Merkel fordern, ist vollkommen identisch mit dem 10-Punkte-Programm der CDU/CSU zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, das dem Parlament vorliegt. Der offene Brief enthält auch keine Argumente, die als Brückenschlag dienen könnten. Er fordert, was CDU und CSU seit langem an weiteren Projekten des Sozialabbaus propagieren, ist also Bestandteil der etablierten politischen Sphäre.

Wieso greifen Stoiber und Merkel zum offenen Brief, wo doch in dieser Form trotz formeller Gleichberechtigung von Schreiber und Adressat ein Machtgefälle zwischen beiden mitschwingt, während auf der Ebene politischer Repräsentation, sei es als bayerischer Ministerpräsident, sei es als Fraktionsvorsitzende von CDU/CSU, die Augenhöhe mit dem Kanzler gegeben wäre?

Ganz einfach, die CDU/CSU stilisiert sich mittels des offenen Briefes als Bürgervereinigung, als gesellschaftliche Kraft, die dem Kanzler mutig gegenübertritt. Sie nutzt diese Form, um im republikanischen Gewand des besorgten Staatsbürgers aufzutreten, der den Rückbezug auf gemeinsame Ideale einfordert. Ganz so, wie die CDU-Zentrale in Berlin im Outfit einer Arbeitslosen-Initiative daherkommt. Dieser Rollenwechsel hätte nicht die geringste Chance auf Glaubwürdigkeit, wenn er nicht bei Gerhard Schröder eine Saite zum Klingen bringen würde. Natürlich weist der Bundeskanzler in seinem Antwortschreiben die Positionen und Forderungen der CDU/CSU-Chefs zurück, erklärt aber: „Ich bin gerne bereit, ein ernst gemeintes Gesprächsangebot anzunehmen“ und erwähnt dann eine Reihe von Politikfeldern, von denen er weiß, dass sie mit den Konservativen nicht zu beackern sind.

Taktisch geschickt. Gäbe diese Antwort nicht auch der vielfach gehegten Hoffnung Nahrung, die Parteienvertreter müssten sich nur ihrer verschiedenen Borniertheiten entledigen, um – als geläuterte Bürger – zu den richtigen, sachgerechten Lösungen zu finden. Indem Schröder sich überhaupt auf dieses Spiel einlässt, trägt er dazu bei, diesen entpolitisierenden und autoritären Politikstil zu befestigen.