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Göttin mit Schwäche

„Heilige sind auch nur Menschen“, kommentierte kürzlich eine indische Tageszeitung die Nachricht, dass ein Shankaracharya an einem Mordkomplott beteiligt gewesen sei. Shankaracharyas sind Inkarnationen des Gründers der wichtigsten hinduistischen Schule und stehen ganz oben auf der Himmelsleiter. Diese Stellung hinderte aber weder die Medien noch die Justiz daran, offen die Gründe des Verdachts gegen den Mönch zu diskutieren.

Dasselbe geschah immer wieder mit Mutter Teresa. Doch sie hatte lange vor ihrem Tod den Kultstatus einer Heiligen erlangt, und ihre beispiellose Hingabe an die Armen entwaffnete auch hartgesottene Antichristen und Chauvinisten. Die meisten Inder behandelten sie als eine göttliche Erscheinung. Beim Durga-Fest kam es vor, dass die bengalische Lieblingsgöttin in der Gestalt von Mutter Teresa als Gipsstatue durch die Straßen von Kalkutta getragen wurde. Als Teresa starb, wurde eine der wichtigsten Straßen der Hauptstadt – sie beschreibt einen Halbkreis um den Präsidentenpalast – in „Mother Teresa Avenue“ umgetauft.

Nur 2,3 Prozent der schätzungsweise 1 Millarde Inder sind katholisch. Die meisten von ihnen leben in den südlichen Unionsstaaten. Der Erfolg der Missionare dort liegt unter anderem daran, dass das Christentum eine Alternative zur Kastengesellschaft bietet, was vor allem für Angehörige der unteren Kasten attraktiv ist. Allerdings bringt das auch Probleme mit sich, denn wer gegen das Kastenwesen ist, greift auch den Hinduismus an.

Inder, namentlich bengalische Brahmanen, konnten sich heftig darüber aufregen, dass eine hergelaufene albanische Nonne ihnen den Spiegel vorhielt und zeigte, wie miserabel es den bengalischen Mitbürgern ging und wie wenig sie sich um ihr Schicksal scherten. Mutter Teresa wurde in Indien auch immer wieder für ihre Haltung zur Geburtenkontrolle oder ihre Unterstützung christlicher Bekehrungsarbeit getadelt.

Diese Mischung aus Verehrung und Respektlosigkeit hat mit der Mischung aus religiösem und pragmatischem Temperament der Hindus zu tun. Ihre Meister mögen, wie vielleicht in keiner anderen Religion, bis nahe an den Kern – oder die Leerstelle – der spirituellen Erfahrung gedrungen sein. Gleichzeitig wissen sie, dass jede Form des Religiösen – Personen, Texte, Praktiken – bestenfalls Annäherungen an die Essenz des Göttlichen sein kann (eine bekannte Definition des Göttlichen ist „neti-neti“, weder – noch).

Götter werden verehrt, weil sie zeigen, wie man durch Askese oder bedingungslose Liebe oder jahrtausendwährende Meditation den höchsten Grad an Vergeistigung erreichen kann. Gleichzeitig zeigen sie aber immer wieder allzumenschliche Schwächen. Shiva wird eifersüchtig, Brahma lüstet nach Göttinnen (und verliert prompt ein paar Spermien), Krishna scheut auch vor einer Lüge nicht zurück, wenn es darum geht, den Gegner auf dem Schlachtfeld auszutricksen.

Die religiöse Toleranz, welche die Inder der katholischen Nonne entgegenbrachten, schliesst auch die Freiheit ein, ungeniert an der Durga- Reinkarnation herumzukritteln. Oder einen Gott aus dem eigenen Pantheon zu verachten. Gott Rama ist der Lieblingsgott vieler Inder, und sein Widersacher Ravana ist so etwas wie die Hindu-Version des christlichen Teufels. Dennoch ist er für viele Inder eine Heldengestalt, während sie über den langweiligen Rama die Schulter zucken. Christlicher Dualismus ist nicht ihre Sache. Wie kann man einer Göttin, oder Mutter Teresa, nacheifern, wenn sie keine Schwächen hat? Bernard Imhasly

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