Ramazan Kayas Sprung

Die Kayas aus Anatolien leben seit fast zehn Jahren ohne einen gültigen Aufenthaltsstatus in Berlin. Der Kampf ums Bleiberecht hat alle krank gemacht. Jetzt hat sich Ramazan Kaya, 26, umgebracht

VON CEM SEY

Vor einer Woche morgens um vier hat Ramazan Kaya, 26, eine Zigarette geraucht, sich von seiner bereits im Bett liegenden Mutter verabschiedet. Dann warf er sich geräuschlos aus dem Fenster. Seine Familie war nicht schnell genug. Sie fanden ihn drei Stockwerke tiefer auf dem Asphalt im Hof. Noch lebte Ramazan. Der Notrufwagen, den der Vater sofort rief, brauchte für ein paar hundert Meter geschlagene 40 Minuten. Ärzte im Urban-Krankenhaus operierten Ramazan – aber es war zu spät.

Dass alles schief läuft, daran ist Familie Kaya gewöhnt. Die Familie aus Samsun in Anatolien lebt seit fast zehn Jahren ohne gültigen Aufenthaltsstatus. Einige Familienmitglieder haben eine Duldung, andere nicht. Diese Ungewissheit, das empfundene Unrecht hat sie krank gemacht. Fast allen in der Familie Kaya bescheinigen mittlerweile ärztliche Atteste, verschiedenste psychische Störungen zu haben.

Bei Ramazan Kaya diagnostizierten die Ärzte im Jahr 2000 „paranoid-halluzinatorische Schizophrenie“. Rüdiger Jung, der Anwalt der Familie, erzählt, dass sich vor allem dieses Attest wie ein roter, krank machender Faden lange Jahre durch den „Fall Kaya“ zog. Der Selbstmord war „ein Hilferuf“ meint er.

Ramazans Vater, Cemal Kaya, sitzt in einem spärlich möblierten Zimmer eines bescheidenen Altbaus in Kreuzberg und weint seinen Schmerz heraus: „Haben die Menschen keine Augen? Haben sie keine Ohren, keine Herzen? Wo bleibt die Menschlichkeit?“, fragt er immer wieder.

Seine Klage und sein Hass zielen auf die Mitarbeiter der Ausländerbehörde. Sie waren es, die der gesamten Familie seit Jahren einen ordentlichen Aufenthaltsstatus vorenthielten.

Cemal Kaya weiß, dass er selber zu dieser vertrackten Situation beigetragen hat. Lange, vielleicht viel zu lange kämpfte er verbittert und mit vielen Wendungen um einen sicheren Aufenthalt. Und mit jedem Schritt hat er wohl alles noch schlimmer gemacht. Er hat eine Frau, von der er sich scheiden ließ, und eine andere, die er später heiratete. Ein Jahr lebte seine neue Liebe, ebenfalls aus der Türkei, illegal in Deutschland. Die Ausländerbehörde glaubte Kaya nichts mehr. Die Härtefallkommission beschied 2002 den Fall negativ. Cemal Kaya verzweifelt. „Ich kann verstehen, dass meine Frau und ich uns schuldig gemacht haben. Aber was haben meine Kinder verbrochen?“ Der Anwalt meint, die Kinder seien Opfer des bürokratischen Krieges.

Die Kinder, das sind zwei Jungs und zwei Mädchen, die seit über 14 Jahren in Deutschland leben. Mittlerweile sind sie erwachsen. Obwohl der Vater nur geduldet war, konnten sie zur Schule gehen – aber danach war Schluss. Als sie sich selbst Ausbildungsplätze organisiert hatten, hieß es, sie dürfen in Deutschland keine Ausbildung absolvieren, da sie nur eine Duldung vorweisen könnten. Berlin durften sie ohnehin nie verlassen. Selbst eine uneingeschränkte Arbeitserlaubnis – trotz Duldung – hat ihnen nicht geholfen. Mehrere Jobs, die sie fanden, konnten sie nicht antreten, weil die Arbeitgeber absagten, sobald sie realisierten, dass die vier keinen sicheren Aufenthaltsstatus hatten.

Auch Ramazan fragte sich: „Warum darf ich Berlin nie verlassen? Warum bekomme ich keinen Ausweis, wie alle anderen? Warum ist bei mir alles anders? Habe ich überhaupt eine Perspektive?“ Das hat er sich die Tage vor seinem Tod ständig gefragt. Das letzte Mal, als er am 12. Februar nach einer akuten Krise im Urban-Krankenhaus stationär behandelt wurde. Wegen schwerer Depressionen.

Über viele Jahre gab sich die Ausländerbehörde unbeeindruckt. Den Vergleich, den der Anwalt Jung vor dem Verwaltungsgericht Berlin 2002 erreichte, hat die Behörde bis vor kurzem einfach ignoriert. Demnach sollten die ärztlichen Atteste der Familie durch die Behörde untersucht werden, um festzustellen, ob aus gesundheitlichen Gründen eine sicherere Aufenthaltserlaubnis zu erteilen wäre. Erst nachdem Jung elf Mal die Behörde an den Vergleich erinnert hatte, wurde die tätig: Man lud die Familie „zu einer körperlichen polizeiärztlichen Untersuchung“. Jung widersprach: „Der Vergleich sieht nur vor, dass der Amtsarzt die vorliegenden Gutachten untersuchen soll.“

Der Fall ist immer noch anhängig. Vor zwei Tagen wurde die Duldung Kayas wieder um einen Monat verlängert. Bitter sagt Cemal Kaya: „Weder töten sie uns, noch lassen sie uns leben!“