Der traurige Titan

Nicht nur aus aktuellem Anlass: kriminalistische Kurzgeschichte über Wettbetrug, die Fußball-Weltmeisterschaft 2002 in Asien, die deutsche Nationalmannschaft und ihren Torwart

VON MATTI LIESKE

Keiner außer ihm sah den Sprengsatz, als er durch die offene Tür hereinflog. Alle waren viel zu sehr mit Staunen beschäftigt. Auch Ang Cheow Yang hatte bis eben gebannt auf den Bildschirm gestarrt und sich gewundert. War das die Bestätigung seiner Vermutungen? Oder eher das Gegenteil. Ein schier unglaubliches Missgeschick? Oder ein schon seit Wochen sorgfältig geplanter Fehlgriff. Aber es machte einfach keinen Sinn. Nach allem, was er herausgefunden hatte, musste doch Deutschland Weltmeister werden. Und der Fehler hätte eigentlich Brasiliens Torwart passieren müssen, und nicht Oliver Kahn, der bislang alles gehalten hatte, was zu halten war bei diesem Turnier, und einiges mehr. Soeben jedoch hatte er einen harmlosen Schuss von Rivaldo einfach abprallen lassen, noch dazu genau vor die Füße von Ronaldo. Der hatte zum 1:0 getroffen, und was das bedeutete, wusste jeder, der sich in der kleinen Bierschänke am Rande des Stadtviertels Shibuya eingefunden hatte, um das WM-Finale im Fernsehen anzuschauen. Eine Schänke, die der Yakuza gehörte und auch als illegales Wettbüro diente.

Ang hatte eigentlich ins Stadion in Yokohama gehen wollen, doch dann war die Nachricht eingetroffen, auf die er kaum noch zu hoffen gewagt hatte. Er sollte zum Finale in die Bierschänke in Tokio kommen. Kurz nach Ende des Spiels würde der Barkeeper eine Zeitung auf die Theke legen. In dieser wäre ein Umschlag mit den wesentlichen Informationen und Kopien einiger beweiskräftiger Dokumente eingeklebt. In einer Speisekarte sollte Ang seinerseits den Umschlag mit den 5.000 US-Dollar deponieren

Vorrunde

Die ersten Anzeichen hatte es vor etwa vier Wochen gegeben, als Ang Cheow Yang in seinem Apartment in Singapur vor dem Fernseher saß und sich darauf freute, endlich mal eine Fußball- Weltmeisterschaft von Anfang bis Ende in Ruhe genießen zu können. Zunächst war ihm alles einigermaßen normal vorgekommen. Kein Grund, krumme Sachen zu vermuten, auch wenn man, so wie Ang, besser als die meisten anderen wusste, welche Blüten das Fußballgeschäft treiben konnte – vor allem wenn die illegalen Wettsyndikate ihre Finger im Spiel hatten. Viele Jahre lang war er als Sonderermittler ausschließlich auf diesem Gebiet tätig gewesen und hatte sich zu einem der besten Kenner der asiatischen Wettmafia entwickelt. Ang hatte jedoch vor einigen Monaten seinen Abschied eingereicht, nachdem sein langjähriger Partner und bester Freund Lim Yao Wan erschossen worden war, als sie in Kuala Lumpur gemeinsam mit der örtlichen Polizei die Zentrale einer Organisation gestürmt hatten, die auch eine Filiale in Singapur besaß. Um seine Zukunft brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Im Laufe der Jahre war einiges an Schmiergeldern in seinen Fingern hängen geblieben. Die angehäuften Gelder auf seinem Konto reichten, um irgendwann eine kleine Jazz-Bar oder ein ähnliches Geschäft zu eröffnen. Zunächst einmal wollte er jedoch eine Weile lang gar nichts tun.

Der Vorsatz hielt, bis am zweiten Spieltag der WM-Vorrunde ein Zettel unter seiner Tür durchgeschoben wurde. „Es geht wieder los!“, war alles, was auf dem Papier stand. Mit dem Genießen der Fußball-WM war es vorbei. Die Tore von Ronaldo, die Dribblings von Diouf, der Kampfgeist der Türken, die perfekte Abwehrorganisation der Skandinavier, der Enthusiasmus der Japaner und Südkoreaner, ja selbst die Frisur von David Beckham – all das spielte für ihn kaum mehr eine Rolle. Er hielt Ausschau nach verdächtigen Fehlpässen, suspekten Torwartfehlern, auf seltsame Weise versiebten Torchancen und natürlich unsinnigen Schiedsrichterentscheidungen. Vor allem diese gab es in Hülle und Fülle, aber nicht einmal Ang hätte in den meisten Fällen zu beurteilen gewagt, ob sie bösem Willen oder purer Unfähigkeit geschuldet waren.

Den nächsten Zettel fand er anderthalb Wochen später. Es waren nur zwei Worte: „Siehst du!“. Frankreich war sensationell ausgeschieden, Argentinien schwebte in höchster Gefahr, und auch um die Portugiesen stand es nicht gut. Er vermutete aber, dass sich die Nachricht auf ein anderes Spiel bezog. Am Tag vorher hatte Kamerun unter recht merkwürdigen Umständen gegen Deutschland verloren und war ausgeschieden. In der ersten Halbzeit noch deutlich überlegen, hatten die Afrikaner nach der Pause plötzlich seltsam lethargisch gespielt, obwohl sie sogar in der Überzahl waren. Ang hatte sich gewundert, mehr aber auch nicht. Erst als er den Zettel fand, dachte er noch einmal über die Sache nach.

Die nächste Nachricht kam schon zwei Tage später: „Zoo, Tiger, 14 Uhr“. Pünktlich lehnte er am Geländer des Tigergeheges und schaute dem einzigen sichtbaren Insassen, einer eher kleingeratenen und offensichtlich total übermüdeten bengalischen Raubkatze, beim abwechselnden Gähnen und Schlummern zu. Die Schläfrigkeit schien ansteckend zu sein, denn Ang bemerkte überhaupt nicht, dass sich jemand neben ihn gestellt hatte. Als der Mann ihn ansprach, schreckte er hoch wie aus einem Traum.

„Viele Millionen Dollar, alle auf Deutschland. Ein Kontakt in Hongkong. Wie viel?“

Ang überlegte fieberhaft. Was hatte er eigentlich noch mit der Sache zu tun? Wieso sollte er eigenes Geld für eine derart vage Information opfern? Er wollte gerade zu einer abschlägigen Antwort ansetzen, da fügte der Kerl noch eine nicht ganz unwichtige Information hinzu:

„Jack Lee hängt dick drin.“

Das gab den Ausschlag. Jack Lee war der Deckname jenes malaysischen Syndikatschefs, den sie bei dem Einsatz in Kuala Lumpur geschnappt hatten und der jetzt längst wieder auf freiem Fuß war.

„Tausend Dollar“, sagte Ang, dem die Tarife noch einigermaßen bekannt waren.

„Gemacht“, entgegnete der Mann, der ebenfalls Bescheid wusste und auf überflüssiges Feilschen verzichtete.

Als Ang nach Hause fuhr, hatte er tausend Dollar weniger, dafür eine Adresse in Hongkong, wo er wiederum einen Tag später landete. Er begab sich schnurstracks zum Aberdeen Harbour. Ang hatte keine Ahnung, wie er seinen Kontakt finden könnte. Es hatte zwar auf dem Zettel gestanden, wo er sich einfinden sollte, aber weder eine Zeit, noch wen er dort treffen würde. Es dauerte jedoch keine fünf Minuten, da tippte ihm schon ein Halbwüchsiger auf die Schulter und meinte:

„Kommen Sie mit, Mister!“

Der etwa zwölfjährige Junge brachte ihn zu einem kleinen Boot, griff sich ein Ruder und manövrierte geschickt zwischen den Unmengen von Hausbooten umher, die hier vor sich hin dümpelten. An Bord des Hausbootes, das sie schließlich ansteuerten, wartete eine kleine Überraschung auf ihn – und zwar in Gestalt eines alten Bekannten. Lam Sun Yook, ein ehrwürdiger Altkrimineller, der seit seinem siebten Lebensjahr, also ungefähr seit 70 Jahren, in verbrecherische Aktivitäten aller Art verwickelt war. Er war Angs Einheit vor ein paar Jahren bei einer Razzia in Singapur ins Garn gegangen und hatte sich in den Verhören als kluger, angenehmer, abgefeimter und völlig skrupelloser Gesprächspartner erwiesen. Er hatte nicht gezögert, weniger wichtige Leute seiner Organisation geradewegs ans Messer zu liefern, um glimpflich davonzukommen, die wichtigen dagegen eisern zu decken. Von zwei Jahren musste er acht Monate tatsächlich absitzen. Lam gehörte einer der Organisationen an, mit denen sich Jack Lee angelegt hatte und die er versuchte vom Markt zu verdrängen. Der Alte führte ihn in eine kleine Kabine, wo sie sich auf Kissen niederließen, während eine junge, überaus hübsche Dame Tee und Gebäck servierte.

„Das ist Li, eine meiner 27 Enkelinnen“, stellte Lam nicht ohne Stolz vor.

„Ich bin entzückt“, entgegnete Ang wahrheitsgemäß, wobei er wissend nickte. Er hatte von Lams hervorragendem Ruf als unermüdlicher Produzent neuen Lebens gehört. Zyniker im Polizeikorps pflegten zu sagen, für jeden Menschen, den er umgebracht hatte, hätte der alte Halsabschneider mindestens einen neuen gezeugt.

„Was weißt du, Lam?“, fragte er unumwunden.

„Es läuft was mit den Deutschen. Wir wissen, dass Lee dahinter steckt und das Zentrum der ganzen Sache Japan ist.“

Es klang plausibel. Die deutsche Mannschaft hatte sich nur mit Mühe für das WM-Turnier qualifiziert. Es würde großartige Quoten bringen, wenn sie Weltmeister würde. Auf der anderen Seite hatte der deutsche Fußball traditionell einen hervorragenden Ruf, vor allem in Asien, so dass sich niemand wirklich wundern würde, wenn in größerem Maße auf sie gewettet wurde. Trotzdem. Ang war nicht überzeugt.

„Glaubst du, dass die Deutschen bestechlich sind?“

Lam lächelte mitleidig.

„Gerade du solltest wissen, dass man jeden bestechen kann. In diesem Fall glaube ich es allerdings auch nicht, aber es gibt ja andere Wege.“

Gegner, Schiedsrichter, Linienrichter – Ang wusste, was sein Gesprächspartner meinte.

„Also gut, was habt ihr zu bieten?“

„Dadurch, dass Lee jetzt auch in Japan operiert, ist er den Yakuza in die Quere gekommen. Die sind stocksauer, wollen aber im Augenblick keinen Ärger. Ihre Verbindungsleute in Verwaltung und Regierung haben sie dringlichst gebeten, sich unsichtbar zu machen, solange die Fußball-WM läuft. Es ist ihnen aber gelungen, einen Spitzel in den japanischen Zweig von Lees Organisation einzuschleusen, und sie haben uns angeboten, ihn in Tokio mit einer Person unseres Vertrauens in Kontakt zu bringen. Wir haben dir einen Flug für morgen früh reserviert.“

Viertelfinale

„Die Japaner werden sich bei dir melden“, hatte Lam versprochen, doch Tag um Tag verstrich, ohne dass etwas geschah. Natürlich hatte er seinen alten Mitstreiter Yukio ausgequetscht, aber abgesehen von einigen vagen Hinweisen wusste die Polizei in Tokio nichts von einem großangelegten Wettbetrug. Inzwischen waren die Viertelfinals gespielt, besonders hatte ihn natürlich das Match der Deutschen gegen die USA interessiert. Sie hatten verheerend gespielt, aber dank ihres Torwarts, der Abschlussschwäche der amerikanischen Stürmer und einer überaus wohlwollenden Regelauslegung des Referees mit 1:0 gewonnen. Durchaus im Sinne des Drehbuchs, das Ang vorschwebte. Der ersehnte Anruf kam erst nach dem Halbfinale. Brasilien hatte die Türkei besiegt und die Deutschen hatten gegen Südkorea gewonnen. Ang hatte es als sehr merkwürdig empfunden, dass der Kampfgeist der Gastgeber plötzlich wie weggeblasen schien. Waren sie zuvor in jedem Spiel den Platz rauf und runter gerast wie ein Herde wildgewordener Nashörner, ließen sie die Deutschen im Mittelfeld gewähren. In jedem Fall gab es jetzt tatsächlich ein Finale, das vor dem Turnier kaum jemand erwartet hatte – außer denen, die gewaltige Beträge auf Deutschland gesetzt hatten.

Endspiel

Dann kam der Fehlgriff von Kahn, und Angs Bild der ganzen Angelegenheit zerbröselte in kleine Segmente, die es neu zusammenzusetzen galt. Es musste ja überhaupt nicht sein, dass Deutschland als Weltmeister gewettet worden war, eine Platzwette mit den Deutschen als Vizechampion hinter Brasilien wäre kaum weniger effektiv. Nun, er würde ja bald alles erfahren, dachte er, und wandte sich dem Barkeeper zu, um ein weiteres Bier zu bestellen. Dabei fiel sein Blick auf die Tür und blieb an dem Sprengsatz hängen, der im selben Augenblick hereingeflogen kam.

Als er erwachte, saß Yukio an seinem Bett. Ang lag im Krankenhaus. Er konnte sich merkwürdigerweise genau erinnern, was passiert war. Wie der seltsame Gegenstand, bei dem er sofort wusste, um was es sich handelte, in die Kneipe geflogen kam; wie er hinausgestürzt war und versucht hatte, den Kerl auf dem Motorrad einzuholen.

„Bulleninstinkt“, meinte Yukio trocken, „die anderen in der Schänke hatten im Gegensatz zu dir keinen Grund rauszurennen.“

„Alle tot?“

Yukio nickte.

„Wie ist das Spiel ausgegangen?“, fragte Ang.

„2:0!“

„Und?“

„Du meinst, ob alles korrekt gelaufen ist? Keine Ahnung! Was glaubst du?“

Ang dachte nach.

„Ja!“, erklärte er nach einer Weile. „Alles korrekt!“

Yukio hob die Augenbrauen.

„Ich habe beschlossen, wieder an das Gute zu glauben.“

Als Yukio gegangen war, griff Ang mit einer gewissen Mühe zu der Zeitung auf dem Nachttisch. Auf der Titelseite war eine große Fotografie von Oliver Kahn, wie er verzweifelt am Boden saß.

Er studierte das Foto eingehend und stellte plötzlich fest, dass er etwas verspürte, was er lange Zeit nicht mehr gekannt hatte: Mitleid mit einem Fußballprofi.

„Ein guter Anfang“, dachte Ang Cheow Yang und schloss die Augen.

Gekürzte Geschichte aus dem Buch „Bei Anstoß Mord – 11 Krimistories rund um große Fußballspiele“ von Matti Lieske, Eichborn-Verlag 2004, 14,95 Euro