Das Drama ist der Zustand

Eine Herausforderung an den Zuschauer, denn es geht ausschließlich um den Text: Laurent Chétouane lässt die Figuren in Büchners „Woyzeck“ am Schauspielhaus in Selbstekel versinken

von Christian T. Schön

Es war klar, dass am Ende jemand Wert darauf legen würde, in der Zeitung zu lesen, dass wer „Buh“ gerufen habe. Leichte Kost waren Laurent Chétouanes Inszenierungen schließlich noch nie. Sie fordern vom Zuschauer immer eine Konfrontation mit der eigenen Lebenszeit und eine Auseinandersetzung mit dem Text. Mit nichts als dem Text im Übrigen.

Seine Inszenierung von Georg Büchners Woyzeck am Deutschen Schauspielhaus führt Chétouane wie zuletzt Don Carlos auch auf die Grundelemente zurück: Bühne – Körper – Sprache. Die Bühne ist gänzlich schwarz, sozusagen nackt. Nur einige Bäume aus Holzlatten stehen im Hintergrund. Die Requisiten – zwei rote Klappstühle, Rasierbecher, Trommeln – wirken überflüssig. Die Kostüme sind zurückhaltend, aber vielsagend; der Doktor etwa präsentiert sich im hellen Cabrio-Freitzeit-Dress.

Die Körper der Akteure bewegen sich mechanisch. Wie Roboter. Ab und zu wechseln sie das Standbein, aber mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen Woyzeck und Marie nie. Minutenlang schnitzt Woyzeck eine Weidenrute, schnitzt und schnitzt und schnitzt. Dann sprengt Devid Striesow, der den Woyzeck spielt, jedes der wenigen Worte des Stückes in Silben, so als sei ein jedes noch zuviel.

Damit beginnt das Stück – und dies ist ein großartiger Moment! Seine Geliebte Marie, mit der er ein Kind hat, trägt maskenhafte Gesichtszüge. Stephanie Stremler spielt die Marie als Geist in stierer Menschenhülle; wichtig hier vor allem: Stremler verfängt sich nicht in Identifikationen, sondern zeigt explizit, dass sie eine Rolle spielt. Jedenfalls rief nie eine Marie mit mehr Selbstverachtung: „Ich bin stolz vor allen Weibern!“

Büchners Figuren haben das Drama, in einer Welt voller sozialem Determinismus zu leben, nie durchlebt, sie stehen es durch. Für sie schreitet das Geschehen unabänderlich fort: „Immer zu, immer zu!“ Chétouane füllt diese Figuren mit Selbstekel. Nichts als Verachtung sollen sie haben für sich und das, was sie sagen. Lange, spannungsvolle Blicke ersetzen die dramatische Handlung. Gerade als er ihren Betrug mit dem Hauptmann bemerkt hat, sagt Woyzeck voller Entsetzen zu Marie: „Da ist wieder Geld.“ Und in seinen Worten klingt Gleichmut mit. Was soll er tun?! Es muss doch weitergehen im Text – „immer zu, immer zu“ halt.

Es sind kurze, fast Beckett-hafte Szenen, die das Stück ins Wanken bringen. Wenn Woyzeck sagt: „Ich muss fort“ und stehen bleibt. Oder als der Hauptmann Woyzeck zuruft: „Langsam, Woyzeck, langsam!“ Da liegt der Saal lachend am Boden, denn die meisten hatten zu diesem Zeitpunkt bereits mehrfach auf die Uhr geblickt und das Ende herbeigeseht. Ein unwürdiger, peinlicher Moment.

Von diesem Augenblick an kann die Inszenierung ihre Magie der Überhöhung nicht zurückgewinnen. Wobei Devid Striesow das textzerlegende Sprechen immerhin durchhält. Aber der Monolog des Hauptmanns (Stephan Grossmann) wirkt wenig ambitioniert. Der Doktor (Jörg Ratjen) erscheint weniger als Biest, denn als Weiser. Ein Handwerksbursche (Ben Daniel Jöhnk) hält eine flammende Predigt. Doch die Spannung des Anfangs ist verloren. Auf einmal erscheint Büchners Stück-Fragment noch zu umfangreich für zweieinhalb Stunden. Nichts, keine Stimmen, kein Wahnsinn treibt Woyzeck zum Mord. Er kauft zwar das Messer, aber der Höhepunkt, auf den alles zuläuft, der Mord an Marie fällt weg. Von der Idee her konsequent, denn das Drama ist der Zustand. Auch von Büchner weiß man nicht, ob er den Mord am Schluss ursprünglich vorgesehen hatte. Wer auf billige Genugtuung wartet, der findet sie hier: Geschafft, das Stück ist zu Ende! Aber die Herausforderung an den Zuschauer wird dann verkannt.

14., 19., 20.3., 1.4., jeweils 20 Uhr, Schauspielhaus, Kirchenallee 39