piwik no script img

Großer Würfelwurf

Atemberaubende Kunstfluchten und dramatische Perspektiven: Das Neue Stuttgarter Kunstmuseum repariert die dem Verkehr zuliebe geschundene Stadt und bietet der Kunst dynamische Freiräume

VON IRA MAZZONI

Stuttgart ist schön! Diese Entdeckung macht, wer das neue Domizil der städtischen Kunstsammlung in der Königstraße besucht. So hat man die Stadt noch nie gesehen wie von den Umgängen des gläsernen Kubus. Je höher man kommt, desto fantastischer das Panorama. Mit dem Dachrestaurant auf dem Kunstwürfel hat Stuttgart einen mondänen Stadtbalkon erhalten. Einen, der den Namen verdient. Der alte war nur ein Betondeckel über dem fünfteiligen Tunnelmurks autogerechter Stadtplaner, die 1963 das klassizistische Kronprinzenpalais und die schöne doppelreihige Allee der Planie opferten. Der Tunneldeckel wurde mit Betonpavillons, Betongeländern und Betonbrunnen garniert und euphemistisch „Kleiner Schlossplatz“ getauft. Als in den Siebzigerjahren aus der Königstraße eine Fußgängerzone wurde, bereute man den Frevel. Die mittlere Tunnelröhre mit Trambahntrasse wurde stillgelegt, und ab 1993 kaschierte eine breite Treppenanlage den Schlund. Mit dieser kam das Leben: Die Stufen dienten als Sonnenbank und Tribüne, die Röhre zog Skater an. Und auf dem Kleinen Schlossplatz etablierten sich In-Treffs. Auch diese Szene gibt es nun nicht mehr.

Das Berliner Architektenteam Hascher/Jehle nahm eine subtile Stadtreparatur vor, die Erinnerungen aufgreift, ohne historizistisch zu werden, und die pragmatisch das Vorhandene nutzt, um daraus atemberaubende Kunstfluchten zu entwickeln. Das „Würfele“, wie die Stuttgarter den Kubus getauft haben, reiht sich in die Kaufhausreihe ein, tritt sogar leicht zurück, um Platz zu gewinnen. Neue helle Treppenanlagen rahmen die dunkle Sockelzone der aufragenden Kunstkaaba und binden sie an den Kleinen Schlossplatz an. Nachts kehren sich die Lichtverhältnisse um: Blendend weißes Licht umfließt die Basis, während der aufragende Kubus durch seinen Kalksteinkern von innen heraus golden leuchtet. Die warme Farbe unterstreicht die Verbundenheit mit der Sandstein-Residenzstadt ringsum. Dabei ist das abgehobene Schatzkästlein bewusst nicht größer als das vormalige Kronprinzenpalais. Nur drei Ausstellungsebenen haben hier Platz, alle anderen Museumsräume liegen in der Tunnelröhre C und dem vier Stollen übergreifenden Zwischengeschoss. Gigantische Schluchten und dramatische Perspektiven tun sich auf. Wer abtaucht in die Unterwelt der Gegenwartskunst, glaubt kaum, dass er noch immer im Verkehrsstrom von täglich 50.000 Autos steht.

„Angekommen!“ – dem Titel der Eröffnungsausstellung ist die Erleichterung nach Jahrzehnten der Planungen und des Streits anzumerken. Endlich hat die Städtische Sammlung ein eigenes Haus und darf sich Museum nennen. Der Ortsbezug, so verkündet die neue Museumsdirektorin Marion Ackermann, ist Programm – aus der Tradition des Sammelns schwäbischer Künstler heraus und durch die Adresse mitten in der Landeshauptstadt. Mit Verve lockt die Kunst die Passanten in die Tiefe. Ein Vektorenschwarm aus 334 Leuchtstoffröhren verdichtet und verwirbelt sich an der Decke des Foyers. Die Installation „Treibholz“ des Stuttgarter Künstlers Andreas Schmid ist alltäglicher, dynamischer Beleuchtungskörper und wegweisende Inszenierung in einem. Sie strömt vorbei an der langen Bar, der Kasse und den Garderoben ins Herz des Museums. Vorbei an Jannis Kounellis’ Flammen zischenden Eisenwänden und Rebecca Horns Filmsequenzen hinein in das Abenteuer der 60 Meter Flucht, der Gräben, Brücken und Loggien. Am Ende wartet als Point de Vue die Videoarbeit „Umsonst ist der Tod“ von René Straub, der afghanische Teppichmuster ineinander fließen lässt und militärische Piktogramme unterschiebt.

An diesem Punkt kommen die Sammlungsstränge zusammen, die der ornamentalen Abstraktion der Hölzel-Tradition und der Konkreten sowie die der politisch engagierten Kunst seit Otto Dix. Die Ausstellung lebt von Parallelen und Kontrasten. Stimmen, Rhythmen, Klänge begleiten die Entdeckungstour und steigern die Neugier. Zwischen Altem und Aktuellem, zwischen Bestand, klug erworbenen Privatsammlungen und mutigen Ankäufen entwickelt sich ein erfrischender Diskurs.

Marion Ackermann weiß die gleitenden Räume dramaturgisch zu nutzen. Hölzels Glasfensterentwürfe schließen sich zu einer Kapelle. Die Arbeiten seiner Schüler Johannes Itten, Oskar Schlemmer und Willi Baumeister erscheinen in neusachlichem Licht. In der Tunnelröhre C spannt sich der Bogen von Dieter Roths vielseitigem Werk zum Bienenwachstunnel von René Straub; Ben Willikens abstrakt weiße Täterorte kontrastieren mit Markus Lüpertz’ Schwarz-Rot-Gold-Triptychon.

Selbst im Allerheiligsten, dem Kalksteintresor für Dix, wird auf Aktualisierung nicht verzichtet: Zu dem grafischen Kriegszyklus gesellt sich die Videoinstallation „Still men out there“ von Björn Melhus, die Tonsequenzen aus US-Kriegsfilmen farbig choreografiert. Mitten im Gemäldesaal, umringt von dem glühenden Großstadttriptychon, der Prager Straße, den Bordellszenen und dem Triumph des Todes baumeln Kunststofftierkadaver aus der Werkstatt Bruce Naumans. Zu dick aufgetragen? Die Drastik von Dix fordert das Extrem. Bloß keine braven Kunstgeschichten. Kritik? Keine. Höchstens an den Materialkontrasten der Architektur und dem unterkühlten Kunstlicht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen