berliner szenen Gegen die Wand

Verkehrsberuhigte Zone

Anfangs war V. ja glücklich, so schnell ein Zimmer in Uni-Nähe gefunden zu haben. Ihre Doktorarbeit über Serienmord im amerikanischen Gegenwartskino ist gerade in der heißen Phase. Da kann sie keinen Wohnungsstress brauchen. Das Haus liegt in einer verkehrsberuhigten Zone. Im Erdgeschoss hat die FDP Büroräume angemietet, die oberen Etagen sind von WGs besetzt. Doch mittlerweile bedauert sie ihre Entscheidung. Die Wände sind dünn und die Nachbarn laut.

Nicht immer, aber beim Sex schon. Und sie lassen keinen Tag aus. Während ich neulich mit V. telefonierte, konnte ich es mit eigenen Ohren hören: ein Geräusch, das mich an einen Konzertmitschnitt „Beatles live in Japan 1966“ erinnerte. Als sich der Nachbar letzte Woche ein Backblech ausgeliehen hat, wollte V. das Thema schon einmal vorsichtig anschneiden. Doch dann hat sie’s gelassen: „Was, wenn er sagt: Wieso, wir machen doch was ganz anderes!?“ Als Kulturwissenschaftlerin ist V. Anhängerin der konstruktivistischen Schule. Natürlich weiß man nie, was die Leute hinter der Wand wirklich tun.

Sie hat dann begonnen, strukturierter an das Problem heranzugehen, und einen Brief geschrieben. Wie spricht man so ein heikles Thema an!? Förmlich oder eher liberal? Mit Einleitung, Hauptteil, Schluss? Anonym oder „Mit freundlichen Grüßen, X.“? Allein über die richtige Schrifttype hat V. tagelang nachgedacht. Mehrere Versionen hat sie getippt, ausgedruckt und zu den anderen in den Papierkorb geworfen. Die letzte Fassung entstand nach einer weiteren schlaflosen Nacht handschriftlich. Man merkt ihr das konstruktivistische Theoriedesign gar nicht mehr an. Auf dem Zettel steht: „Könnt ihr bitte leiser ficken?“

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