Einer von uns

„Mehmet“ hat wieder zugeschlagen. Der einstige jugendliche Serienkriminelle aus München sitzt nun im Gefängnis. Bayerns Innenminister Günther Beckstein fordert die erneute Ausweisung des mittlerweile 20-Jährigen – und ignoriert dabei die Umstände des Falles: „Mehmet“ ist ein deutsches Problem

Aus dem Menschen Muhlis ist das Symbol „Mehmet“ geworden. Es lässt sich prächtig benutzen

AUS MÜNCHENJÖRG SCHALLENBERG

Günther Beckstein hat es natürlich immer schon gewusst. War doch klar, dass es so kommen musste. Nicht ohne einen triumphierenden Unterton gab der bayerische CSU-Innenminister vor wenigen Tagen zu Protokoll: „Ich verhehle nicht, dass mein erster Gedanke heute Morgen war: Meine Entscheidung zur Ausweisung war doch richtig.“ Böse Zungen könnten hinsichtlich des Umgangs der CSU mit Straftätern ohne deutschen Pass nun verächtlich fragen, was daran Besonderes sei, wo dies doch vermutlich jeden Tag der erste Gedanke von Beckstein ist. Dieses Mal aber galt seine Freude einem ganz besonderen Fall, womöglich der größten Herausforderung seiner Amtszeit – an der er letztlich mit seiner Politik des brutalstmöglichen Durchgreifens gescheitert war. Zumindest sah es bis Ende vergangener Woche so aus.

Da nämlich wurde publik, dass der 20-jährige Muhlis A. aus dem Münchner Problemviertel Neuperlach-Süd verhaftet worden war. Angezeigt hatten ihn seine Eltern, die er seit einiger Zeit bestohlen, geschlagen, getreten und bedroht haben soll – unter anderem mit den Worten: „Euer Tod kommt aus meiner Hand. Ich stech euch ab.“ Jetzt sitzt er im Gefängnis München-Stadelheim. Nur ein Familiendrama, könnte man meinen, wäre Muhlis A. nicht besser unter dem Decknamen „Mehmet“ bekannt. Den hatten ihm die Behörden in München 1998 verpasst, um die Anonymität des damals 14-Jährigen zu schützen, der bundesweit für Schlagzeilen sorgte.

Denn Mehmet alias Muhlis hatte bis dahin bereits in seiner Altersklasse rekordverdächtige 60 Straftaten angehäuft, darunter Körperverletzung, Raub, Einbruch und Diebstahl. Er galt als extrem gewalttätig: Eines seiner Opfer behauptete trotz übler Verletzungen gegenüber der Polizei aus lauter Angst steif und fest, er sei gegen einen Baum gelaufen. Weil Muhlis A. aber die meisten Taten beging, bevor er strafmündig war, blieb er stets auf freiem Fuß. Als der Fall bekannt wurde, sorgte er wegen der Vielzahl der Vorfälle und der Hilflosigkeit der Behörden für enormen Aufruhr in ganz Deutschland. Die CSU-Staatsregierung reagierte auf ihre Weise: Sie forcierte mit erheblichem Druck auf alle beteiligten Ämter und Personen die Ausweisung von Muhlis A., der als Sohn türkischer Eltern 1984 in München geboren worden war, aber keinen deutschen Pass besaß. Trotz massiver Kritik in der Öffentlichkeit musste der 14-Jährige Ende 1998 Deutschland verlassen und wurde per Flugzeug in die Türkei verfrachtet. Als besonders durchsetzungsfähig präsentierte sich damals der Chef des Münchner Kreisverwaltungsreferats, Hans-Peter Uhl, der den dank „Mehmet“ gewonnenen Ruf prächtig für seine weitere Karriere nutzen konnte: Heute ist Uhl CSU-Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender des Visa-Untersuchungsausschusses. Wohin er Joschka Fischer am liebsten ausweisen würde, bleibt sein Geheimnis.

Muhlis A. hingegen kehrte im August 2002 nach Deutschland zurück, weil das Bundesverwaltungsgericht die Abschiebung für rechtswidrig erklärte. Seitdem lebte der junge Mann scheinbar unauffällig in München, seit Januar 2005 wieder bei seinen Eltern in Neuperlach-Süd.

Und nun der Rückfall. Mit einem Schlag scheint die gesamte Diskussion des Jahres 1998 wieder zu entbrennen, als wäre in der Zwischenzeit nichts passiert. Allen voran stürmt selbstredend Günther Beckstein, der den Urteilsspruch des Bundesverwaltungsgerichts von 2002 und dessen positive Zukunftsprognose für Muhlis A. mit unverhohlener Freude als „Sozialromantik“ verhöhnt, die nächste Abschiebung in Aussicht stellt und einen Sprecher des Innenministeriums erklären lässt: „Eine dritte Chance wollen wir ihm nicht geben, nachdem er seine zweite Chance nicht genutzt hat.“ Da trifft es sich prächtig, dass man den nunmehr 20-jährigen Wiederholungstäter auch juristisch härter anfassen kann als einen Jugendlichen, zudem besitzt Muhlis A. nur eine Aufenthaltserlaubnis bis Februar 2006, deren automatische Verlängerung man nur kurzerhand unterbinden müsste. Das Münchner Kreisverwaltungsrat wird zwar mittlerweile von einem SPD-Mann geführt, hat aber schon vermeldet, diese Möglichkeit zügig zu prüfen.

Natürlich gibt es, folgt man Günther Beckstein, gute Gründe für den flugs geplanten neuerlichen Rausschmiss des Sünders mit dem falschen Pass aus seinem Geburtsland. Zum einen weiß der Innenminister: „Während ‚Mehmet‘ in der Türkei keine Straftaten beging, kommt er hier einfach nicht zurecht.“ Und weil er seiner Stammklientel schon genug Futter gegeben hat, kann sich Beckstein noch ganz liberal geben und anhand dieses Fallbeispiels darauf verweisen, wie wichtig doch die Integration der türkischen Mitbürger in der deutschen Gesellschaft ist, „besonders die sprachliche“. Das ist richtig – aber es erklärt nicht den Fall Muhlis A.

Denn der ist weder in einer abgeschotteten Parallelgesellschaft aufgewachsen, noch erfüllt er das Klischee, in Deutschland schulisch und beruflich kein Bein auf den Boden bekommen zu haben. Sicher, bei seinen Eltern wurde kaum Deutsch gesprochen. Weil Muhlis zudem lispelt, kam er als Sechsjähriger zunächst in eine Klasse für sprachbehinderte Kinder. Doch später wechselte er auf die normale Grundschule, dann auf die Hauptschule. Schulpsychologen attestierten ihm einen überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten. Er spricht vernünftig Deutsch, hatte damals deutsche Freunde – und bei seinen Raubzügen später mitunter deutsche Mittäter. Nach seiner Rückkehr 2002 hat er den Hauptschulabschluss nachgeholt – mit der Note 1,5. Damit zählt man hierzulande natürlich nicht gerade zu den Gewinnern – aber nach jemandem, der in Deutschland überhaupt nicht zurechtkommt, sieht er auch nicht aus. Als er nun verhaftet wurde, war Muhlis A. zudem nicht arbeitslos, wie mancherorts zu lesen war, sondern er arbeitete an der Fertigungsmaschine in einer Computerfirma.

Warum er damals, ab seinem elften, zwölften Lebensjahr, rasend schnell in die schwere Kriminalität abgerutscht war, ist bis heute schwer nachvollziehbar. Innerhalb der Familie soll es erhebliche Konflikte gegeben haben. Fest steht dagegen: Muhlis wurde in Deutschland geboren und wuchs hier auf, weil Politik und Wirtschaft Menschen wie seinen Vater – der jahrzehntelang bei BMW am Fließband schuftete – hier haben wollten. Er ist ein Produkt der deutschen Gesellschaft, nicht der türkischen – auch wenn er in einem soziokulturellen Grenzgebiet groß geworden sein mag. Ihn dann, wenn er die Regeln dieser (und jeder anderen) Gesellschaft immer wieder massiv verletzt, hart zu bestrafen, ist wohl unvermeidlich. Muhlis A. wird, das scheint sicher, ins Gefängnis gehen. Ihn aber nach dem geistig simpelsten Motto „Ausländer raus“ einfach aus diesem Land auszustoßen, ist 2005 genauso schäbig wie 1998. Er ist ein deutsches Problem. Die Lehrerin Susanne Korbmacher, die den Verein „Ghettokids“ in einem anderen Münchner Problemviertel, dem Hasenbergl, betreut, formuliert es so: „Das ist, wie wenn eine Familie ihr Kind auf die Straße wirft.“

Wenn Günther Beckstein und Polit-Aufsteiger Hans-Peter Uhl zudem bis heute die selbstgerechte Erkenntnis verbreiten, die damalige Abschiebung in die Türkei sei nur zum Besten von Muhlis gewesen, entspricht das nicht der Realität. Unmittelbar nachdem er in Istanbul gelandet war, begann eine chaotische Odyssee. Zunächst wurde er aufgrund seines zweifelhaften Ruhms als Moderator beim einem Musik-TV-Sender angeheuert, dann durch mehrere Heime geschleust und schließlich bei Verwandten abgeliefert, die von seiner Ankunft völlig überrascht waren. Zuständig für ihn war niemand, dafür hatten deutsche Medien – anders als hierzulande – freie Bahn, den Abgeschobenen mit üppigen Honoraren für Reportagen, Interviews und Porträts zuzuschmeißen. Was daran gut gewesen sein soll, kann keiner erklären.

Dass die kriminelle Karriere von Muhlis A. tatsächlich 1998 beendet schien, hat sein Anwalt, Alexander Eberth, stets mit dem Eindruck der ersten Untersuchungshaft als 14-Jähriger erklärt, die Ausweisung dagegen „war für seine Entwicklung schädlich“. Doch um solche Details geht es schon lange nicht mehr. Aus dem Menschen Muhlis A. ist das Symbol „Mehmet“ geworden. Es lässt sich prächtig benutzen, um damit Politik zu machen. Oder auch Theater. Die sozialen Brennpunkte der Stadt sind seit den Taten des Muhlis A. ein interessantes Spielfeld für die Münchner Bühnen geworden. Im vergangenen Jahr wurde an den Kammerspielen das Stück „Ein Junge, der nicht Mehmet heißt“, aufgeführt. Das wäre auch ein guter Titel für die Inszenierung, die bald auf dem Programm steht. Der Prozess gegen Muhlis A. wird im Laufe dieses Jahres beginnen.