Radikaler Kurswechsel

Unverhofft legen zwei der vier Angeklagten im Münchner Terrorprozess Geständnisse ab

AUS MÜNCHENJÖRG SCHALLENBERG

Derart fassungslos hatte man Martin Wiese noch nie erlebt. Monatelang saß der Münchner Rechtsextremist betont gelassen auf der Anklagebank des bayerischen Obersten Landesgerichts und verfolgte das Verfahren gegen sich und seine drei Mitangeklagten, meist ohne eine Miene zu verziehen.

Doch gestern Morgen gegen zehn Uhr war es damit vorbei. Wieses Gesichtszüge entgleisten, er schüttelte fassungslos den Kopf, sodass der buschige Backenbart kräftig wackelte. Dann drehte er sich zur Seite und redete vehement auf seinen Mitangeklagten Alexander M. ein, der neben ihm saß – als würde er ihn am liebsten an Ort und Stelle erwürgen.

Aus der Fassung gebracht hatten Wiese, einst Anführer der neonazistischen „Kameradschaft Süd“, die Erklärungen, die M. und der ebenfalls angeklagte David Sch. zu Beginn dieses Prozesstages von ihren Verteidigern verlesen ließen: Zur Verblüffung aller Anwesenden im voll besetzten Gerichtssaal räumten sie alle Vorwürfe der Bundesanwaltschaft ein. Bisher hatten sie stets bestritten, einen Sprengstoffanschlag auf die Grundsteinlegung des neuen jüdischen Kulturzentrums in München im November 2003 geplant zu haben oder überhaupt Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele in Betracht zu ziehen.

Der radikale Kurswechsel geschah zum juristisch wie dramaturgisch bestmöglichen Zeitpunkt. Denn eigentlich hatte Anführer Wiese für den gestrigen Verhandlungstag eine Erklärung angekündigt, in der er darlegen wollte, warum die Gruppe 2003 im Besitz von 1,3 Kilogramm TNT sowie mehreren Pistolen und anderen Waffen war. Um Wieses Version zuvorzukommen, hatten sich M. und Sch. zur Flucht nach vorn entschlossen – natürlich auch in der Hoffnung auf mildere Strafen, wie ihre Anwälte später vor dem Gerichtssaal bereitwillig erklärten. Schließlich geht es in dem streng bewachten Prozess auch um den Vorwurf der Bildung einer terroristischen Vereinigung nach Paragraf 129a StGB (siehe Text unten).

Während sich die Vertreter der Bundesanwaltschaft recht unverhohlen über den unerwarteten Triumph freuten, beantragte Wieses Verteidiger, der Szene-Anwalt Günther Herzogenrath-Amelung, völlig entgeistert eine Pause. In der besprach er sich ausgiebig mit Norman Bordin, dem Mitbegründer der Kameradschaft Süd, der zurzeit als eifriger Aktivist der NPD von sich reden macht.

Wie explosiv die Stimmung zwischen den Angeklagten war, zeigte sich, als der Prozess fortgesetzt wurde. Plötzlich saß der vierte Beschuldigte, Karl-Heinz St., als eine Art Puffer zwischen Wiese und Maetzing, zusätzlich wurden zwei Polizisten rechts und links von Wiese platziert. Der verlas nun seine Erklärung, nicht ohne seine geständigen Exkumpane vorab als „Lügner und Verräter“ zu titulieren, die sich auf einen „Deal mit den Anwälten“ eingelassen hätten.

Dann endlich zog Wiese sein vermeintliches As aus dem Ärmel und brachte den großen Unbekannten ins Spiel: Ein gut situierter Militaria-Sammler habe ihn beauftragt, Waffen und „Kriegsschrott“ zu besorgen und ihm dafür in Aussicht gestellt, seine „nationalpolitische Arbeit“ zu finanzieren. Es sei nur unglücklichen Umständen und Verzögerungen bei der Übergabe des gesammelten Materials geschuldet, dass Sprengstoff und Waffen bei der „Kameradschaft Süd“ gefunden wurden. Den Namen des großen Unbekannten will er nicht nennen. Am Ende blickt er kurz in den Saal, jegliche Selbstsicherheit ist verflogen. Wiese sieht nun nur noch aus wie jemand, der weiß, dass er verloren hat.