Eine feine Adresse

Das Lübecker Wohn- und Kulturprojekt „Walli“ ist eines der Urgesteine der deutschen Bauwagenszene. Im April fällt die Entscheidung über eine Räumungsklage. Noch bullern die Öfen, schlafen die Hunde unter dem Kneipentisch. Ein Besuch

aus Lübeck Esther Geißlinger

Willy-Brandt-Allee 9 ist eine gute Adresse. Das Holstentor in Sichtweite, schräg gegenüber der schnieke Neubau der Musik- und Kongresshalle, eine Brücke führt über die Trave direkt in die Lübecker Innenstadt. Die „Walli“, benannt nach dem Standort Wallhalbinsel – eines der nach Selbsteinschätzung „ältesten und ohne Übertreibung wohl auch bedeutendsten selbstverwalteten Zentren in der Bundesrepublik“ – hat sich diese Adresse 1978 gesichert. Da gab es weder Brücke noch Musikhalle, nur ein Abbruchhaus in mieser Lage, für das sich niemand interessierte außer einer Gruppe von Besetzern.

„Wir waren weit weg, jetzt sind wir auf einmal mittendrin in der Stadt, und jetzt will man uns nicht mehr“, sagt Nele zu den Plänen der Kommunalpolitiker, die Wallis von ihrem Platz zu vertreiben. Nele wohnt in der Walli-Wagenburg, einem der wenigen verbliebenen Bauwagenplätze in Norddeutschland. Das Wohnprojekt ist Teil des Walli-Ensembles mit dem „Café Brazil“, der Kneipe „VeB“ und dem „Treibsand“, einem Saal mit Verstärkern und Bühne, in dem Bands auftreten und Nachwuchsgruppen proben können. Fast jede Woche finden hier Veranstaltungen statt – die oft besser besucht sind als Konzerte in der großen Musikhalle gegenüber. Politische Jugendgruppen treffen sich im Haus, darunter Lübecks Antifa-Laden. Alle Projekte werden von eigenen Kollektiven geleitet und organisiert.

Die Walli entstand nach und nach. Nach der Hausbesetzung machten sich die Leute, die sich „alternative“ nannten, auch auf dem benachbarten Gelände breit. Bei einem Fest wurde es einfach freundlich übernommen, die ersten Wagen tauchten bald danach auf.

Mit den Wagen kam auch Uwe. Vor 17 Jahren zog der pensionierte Berufsfeuerwehrmann auf die Wallhalbinsel. Heute ist der 64-Jährige, der seinen Nachnamen nicht so wichtig findet, dienstältester Wagenburgler und findet das Leben im Bauwagen manchmal „ziemlich uncool“. Beispielsweise, wenn er morgens um drei durch den Schnee zu den Toiletten tappt und sich wünscht, seine Nachbarn würden besser darauf achten, die Wege nicht vollzustellen. Okay, wenn er dann wieder in seinem behaglichen Wägelchen ist, in dem kaum mehr Platz hat als ein Bett und ein Klapptisch neben dem bullernden Ofen, sieht die Welt wieder ganz anders aus.

Gänzlich vergessen hat Uwe die winterlichen Klogänge an lauen Sommerabenden, wenn „1000 Frösche“ über den Platz quaken. Seltene Tierarten seien hier zu Hause, erzählt Uwe. Zwischen den Wagen wachsen Bäume, einen kleinen Teich haben die Bewohner angelegt.

„Die meisten von uns arbeiten oder studieren“, sagt Uwe und zeigt auf die Wagen, die an den schmalen Fußwegen auf dem Gelände stehen: „Da wohnt eine Psychologie-Studentin, dort ein Tischler, da eine junge Mutter, die auch Tischlerin ist.“ Rund 25 Menschen leben auf dem Platz, allerdings ist die Fluktuation hoch: Viele bleiben nur ein paar Monate oder wenige Jahre. Die Bewohner versuchen, die freien Plätze schnell wieder zu besetzen, achten aber auf eine gute Mischung von Männern und Frauen. Jährlicher Höhepunkt des „Walli“-Jahres ist die Maifeier, zu der zahlreiche Besucher auf das Gelände strömen.

Willy-Brandt-Allee 9: Im „Café Brazil“ ist nicht viel los. Nur ein paar Leute sitzen über einem späten Frühstück, ein paar Hunde schnüffeln an den Beinen neuer Besucher. Alles friedlich – aber es könnte die Ruhe vor dem Sturm sein.