Dramatisch verstrickt

Psychiatrischer Sachverständiger attestiert der wegen Mord am Ehemann angeklagten Ayse B. totalen Kontrollverlust im Affekt

bremen taz ■ Dem schweren Anklagevorwurf von Heimtücke und Mord gegen die 40-jährige Türkin Ayse B. stellte der psychiatrische Gutachter gestern im Landgericht eine andere Sicht entgegen: Die auf eine allzu duldsame, anpassungsbereite Frau, die das Ausmaß ihres tiefen Kummers verheimlichte – bis sie unvorhersehbar auch für sie selbst nach jahrelang erlittener Erniedrigung, Kränkung und Gewalt ausrastete. „Im explosionsartigen Affekt“ habe die Angeklagte ihren mehrere Jahre älteren Ehemann erschossen – ohne je die Folgen zu erwägen oder ein Motiv zu haben, außer dem des Augenblicks: Kränkung und Erniedrigung zu beenden. Mit mehreren Schüssen aus der Waffe des Mannes hatte die zierliche Frau diesen Schlusspunkt im vergangenen September gesetzt – nachdem der ihr körperlich weit überlegene Peiniger sie einmal mehr nicht aus der Wohnung ließ.

Beim Getöteten stellten Experten später 1,5 Promille Blutalkohol fest. Der bleichen, zitternden Täterin nahmen erst herbeigerufene Familienmitglieder die Waffe aus der Hand. Typische Anhaltspunkte für den Affekt, so der Gutachter. Den Schüssen auf den Schlafenden vorausgegangen waren stundenlange Auseinandersetzungen, bei denen der Mann die Frau beschimpft, erniedrigt und bedroht hatte, wie die Kinder des Paares bezeugten.

Welchen verrohten Zustand die Ehe erreicht hatte, beschrieb Gutachter Helmut Haselbeck gestern im Zeitraffer der Ereignisse der Tatnacht: „Erst hat der Mann den Kopf der Frau genommen und gesagt, er müsse nur ‚knack‘ machen, um ihr Leben zu beenden – dann forderte er sie zum Sex auf seiner Matratze auf.“ Dass es für Mann und Frau keinen Ausweg aus dem Ehedrama gab, erklärte Haselbeck damit, dass sie sich in ihren Persönlichkeitsstrukturen verhängnisvoll ergänzten. Sie „agressiv-gehemmt“, lange bereit, diese Ehe als Bürde des Schicksals zu ertragen. Er rechthaberisch und bis an die Grenze des Krankhaften kontrollsüchtig. Dies erkläre auch das „Messi-Zimmer“, in dem das Opfer Gegenstände hortete – während zwei Töchter und ein Sohn ein Schlafzimmer teilten; die älteste Tochter studiert, die jüngere hat das Abitur bestanden, der Sohn geht aufs Gymnasium. Der bis zu seinem Tod berufstätige Monteur habe sich und seiner Frau buchstäblich jeden Rückzug verbaut.

Ausdrücklich erklärte der Gutachter, dass er die Aussagen der Angeklagten für glaubwürdig halte. Auch wenn der Ehemann seine Todesdrohung im Fall ihrer Flucht vielleicht nicht umgesetzt hätte, so habe die Frau „subjektiv seine Drohungen geglaubt“. Angesichts des Arsenals scharfer Waffen in der Wohnung sei das kaum „aus der Luft gegriffen“.

Ein auswegloses Märtyrium bezeugte gestern auch die deutsche Betreiberin eines Huchtinger Videoverleihs der Angeklagten. Ihr hatte die Angeklagte sich jahrelang anvertraut, während die engere Familie vom Ausmaß ihres Unglücks wenig erfuhr. Ihr hatte Ayse B. Verletzungen gezeigt, sich das Herz erleichtert und immer häufiger geweint. Deshalb habe sie Ayse B. im Januar vergangenen Jahres ins Frauenhaus bringen wollen. Aber die Türkin lehnte ab. Aus Angst vorm Ehemann. „Ich durfte ihr nicht helfen“, so die Zeugin. ede

Am Freitag, 18.3., soll plädiert werden: ab 10 Uhr Landgericht Saal 218