Ins Ghetto gehen

Chahdortt Djavann analysiert präzise, warum die Islamisten in Europa an Boden gewinnen. Und: Sie kennt probate Mittel gegen deren Methoden

Wer den Islamismus bekämpfen will, muss über die Defizite der Sozialpolitik reden

VON EBERHARD SEIDEL

Deutschland diskutiert. Geredet wird über „Allahs rechtlose Töchter“ (Spiegel), die Kampfzonen der multikulturellen Gesellschaft, über Islamisten im Allgemeinen und Türken im Besonderen. Schon in der Vergangenheit haben sich zahlreiche Aktivisten der Multikultiszene ernsthaft mit diesen Themen beschäftigt. Ganz im Gegensatz zu den publizistischen und intellektuellen Wortführern des Landes, die all dies in den zurückliegenden 25 Jahren mehrheitlich kaum wahrgenommen haben.

Seit der EU-Beitritt der Türkei näher rückt, ist die Meinungselite aus ihrer Lethargie erwacht und greift in die Diskussionen ein – anklagend, aggressiv und wahnhaft. Wenn etwa, wie mehrfach geschehen, behauptet wird, 70 bis 80 Prozent der in Deutschland lebenden Türken würden Ehrenmorde gutheißen, dann hat das nichts mehr mit seriöser Analyse, sondern mit purer Lust am Krawall zu tun. Auf der Strecke bleiben die muslimischen Minderheiten, die sich mehr denn je dagegen wehren müssen, zum Fremdkörper in dieser Gesellschaft gemacht zu werden.

Glücklicherweise gibt es auch heute noch Intellektuelle, die Missstände in Minderheiten scharf kritisieren, ohne sie gleichzeitig kollektiv an den Pranger zu stellen. Die französische Anthropologin Chahdortt Djavann ist seit Jahren an der Kopftuchdebatte in Frankreich beteiligt und eine entschiedene Verfechterin des französischen Laizismus. Nun hat sie mit „Was denkt Allah über Europa? Gegen die islamistische Bedrohung“ eine wohltuende Streitschrift vorgelegt. In einer klaren und stringenten Argumentation entlarvt die Autorin die Doppelzüngigkeit des islamistischen Diskurses und analysiert die Unterwanderungsstrategien der Islamisten, die die Kopftuchdebatte als wichtigste Waffe einsetzen, um in Europa an politischer Macht zu gewinnen. Gleichzeitig entlarvt sie die gefährliche Naivität kulturrelativistischer Positionen, die das Kopftuch gerne als eine persönliche Angelegenheit der einzelnen Muslimin betrachten möchten.

Djavann weist schlüssig nach, dass das Kopftuch (in Frankreich Schleier genannt) keineswegs ein beliebiges Kleidungsstück wie zum Beispiel ein bauchfreies T-Shirt ist, sondern das Emblem des islamistischen Systems schlechthin. Für Djavanns Analyse ist es dabei unerheblich, wie die einzelne Frau ihre Entscheidung, das Kopftuch zu tragen, begründet. Wer das Individuum in das Zentrum rücke, versperre den Blick auf die eigentlichen Machtverhältnisse, die mit dem Schleier untrennbar verknüpft sind. Das Kopftuch, so Djavann, legt die Hierarchie des Geschlechterverhältnisses fest und reduziere das Verhältnis zwischen Mann und Frau auf eine „rüde, bestialische Sexualität“. Das Kopftuch reduziere die Frau auf ein Geschlechtsorgan.

Zwar ist die Unterlegenheit der Frau, symbolisiert durch das Bedecken der Haare, auch in den anderen monotheistischen Religionen angelegt, allerdings gibt es einen gewichtigen Unterschied. Der Islamismus möchte verhindern, dass sich der Staat, also die öffentliche Macht, in Angelegenheiten einmischt, die von ihm als religiös aufgefasst werden. Gleichzeitig nimmt der Islamismus sich das Recht, dem Staat im öffentlichen Raum seine Regeln aufzuzwingen. Folglich werden die Schule, die Universität, medizinische Untersuchungen und der öffentliche Dienst in Europa mittels des Kopftuchs zunehmend dem islamistischen Druck unterworfen.

Für Islamisten hat der Schleier sowohl einen ökonomischen als auch einen machtpolitischen Zweck. Einen ökonomischen, weil eine verschleierte Frau nur von einem muslimischen Mann erworben werden kann. Sie ist eine Ware, die den muslimischen Männern vorbehalten ist. Einen machtpolitischen, weil er demonstriert, wie weit die islamistische Weltsicht bereits verbreitet ist.

Trotz ihrer beunruhigenden Analyse verfällt Djavann nicht in antiarabische und antitürkische Ressentiments, wie sie derzeit in Deutschland üblich sind. Nein, sie benennt stattdessen zwei Felder, auf denen der Kampf gegen den Islamismus auszutragen wäre. Erstens: „Um den Vormarsch der Islamisten in Europa aufzuhalten, ist es an der Zeit, jede Diskussion über den Islam auf einen religiösen, historischen oder philosophischen Rahmen zu beschränken. Alles Gesellschaftliche muss vor dem Eindringen des Islam geschützt werden.“ Berücksichtigte man dies in Deutschland, müsste auch über das Verhältnis des Staates zu den anderen Religionen neu nachgedacht werden.

Als Zweites warnt die Autorin davor, die Jugendlichen aus den Vorstädten den Islamisten zu überlassen. Denn die Islamisten machten sich die Probleme zunutze, die der Arbeitsmarkt, die Ghettoisierung, die sozialen Ausschlussmechanismen und der Rassismus hervorbringen. Sie beuten überall in der Welt, nun eben auch in Europa, die Ressentiments der Armen und der Ausgeschlossenen, der „Enterbten“, wie die Islamisten selber sagen, aus. Die wahren Probleme in den Einwanderervierteln sind wirtschaftlicher und sozialer Natur. Europa, so Djavann, muss seine Integrationskraft unter Beweis stellen und darf nicht zulassen, dass ein Teil der Bevölkerung „ethnologisiert“ wird, indem man ihm einen unverrückbaren geografischen, sozialen und religiösen Ort zuweist.

Auf die aktuellen Debatten in Deutschland bezogen, bedeutet das: Wer den Islamismus, Ehrenmorde und Zwangsverheiratung im Interesse der Opfer wirkungsvoll bekämpfen will, der muss nach der Empörungswelle wieder mehr über die Defizite der Wirtschafts-, Sozial- und Integrationspolitik reden. Das ist zwar nicht so populär, aber sicher langfristig erfolgreicher.

Chahdortt Djavann: „Was denkt Allah über Europa? Gegen die islamistische Bedrohung“. Ullstein Verlag, Berlin 2005, 96 Seiten, 12 €