Die innere Unsicherheit

Augen, die sehen, aber nichts sehen, Ohren, die hören, aber nichts hören: Jenny Erpenbeck hat mit „Wörterbuch“ ein böses Gleichnis auf eine erfolgreiche Manipulation des Gewissens geschrieben

Niemand hilft dem Kind, die verbalen Bedeutungsebenen zu unterscheiden

VON GISA FUNCK

Selbstbewusste Gewinnerinnen waren die Heldinnen der Ostberliner Schriftstellerin Jenny Erpenbeck noch nie. „Der unterste Platz“, sagte sich schon die weibliche Hauptfigur ihres Romandebüts „Die Geschichte vom alten Kind“, „ist immer der sicherste“. Ein Motto, dem sich die vom Leben enttäuschten Protagonistinnen des nachfolgenden Erzählbandes „Tand“ anschlossen. Und auch die Ich-Erzählerin des neuen, zweiten Romans „Wörterbuch“ ist einmal mehr eine angeknackste Persönlichkeit.

Nicht umsonst beginnt diese junge Frau ihren Lebensrückblick mit einer Frage, die von einer schweren Identitätskrise zeugt: „Wozu sind denn meine Augen da“, fragt sie zu Beginn, „wenn sie sehen, aber nichts sehen?“ Es folgt der Versuch einer Spurensuche, von der sich die Erzählerin offenbar identitätsstiftende Antworten erhofft.

„Wörterbuch“ stellt die Chronik eines Spracherwerbs im weitesten Sinne dar, die vom Heranwachsen in einem rigiden Sozialsystem handelt. Was sich in „Die Geschichte vom alten Kind“ noch auf ein Kinderheim beschränkte, in dem es zwar mitunter rüde, jedoch nicht dezidiert ideologisch zuging, nimmt in Erpenbecks neuem Buch das Ausmaß einer totalitären Horrorvision an. Nur liest sich das über weite Strecken ganz harmlos. Das liegt vor allem daran, dass die Autorin eine kindlich-naive Perspektive für ihre Parabel einer weit reichenden Verführung gewählt hat. Ihre Ich-Erzählerin ist zwar erwachsen, spricht aber über ihre Vergangenheit wie ein Kind. Dadurch baut sich schnell ein Spannungsverhältnis zwischen einem faktisch erschreckenden Inhalt und einer niedlich-verharmlosenden Sprache auf.

So redet die Erzählerin mehrfach davon, dass in ihrem Herkunftsland angeblich „immer die Sonne“ schien. Dass sie als Schülerin in Uniform zu Fahnenappellen antrat, um „eins“ und „gleich“ mit den anderen zu werden; dass sie von Eltern und Lehrern „Verantwortung geschenkt“ bekam. Alles euphemistische Lehrformeln, die die junge Frau geradezu mantrenhaft wiederholt, als wären es letzte Bastionen ihres Geistes, um nur ja nicht das Unheimlich-Ungesagte dahinter sehen zu müssen.

In ihrem ehemaligen Heimatstaat, in dem man ebenso die alte DDR wie auch die argentinische Militärdiktatur wiedererkennen kann, herrschte das typisch totalitäre Gebot, alles Negative strikt positiv umzuwerten. Der „Palast“, in dem der Vater des Mädchens, bezeichnenderweise ein Polizeikommandant, arbeitet, wird etwa als helles Gebäude mit großen Fenstern geschildert, die sich aber alle als nur „aufgemalt“ herausstellen. Die brutale Verhaftung einer Frau kommt der Tochter nur wie ein „Tanz“ vor. Und Folter gab es in diesem Land der ewigen Sonne natürlich auch nicht. Allenfalls Maßnahmen, die Systemgegnern die „Konzentration, auf das, was wesentlich ist“, erleichtern sollen, wie es der Vater formuliert.

Erpenbeck schildert die Indoktrination ihrer Heldin als Prozess einer schleichenden Abstumpfung. Zunächst ist das Kleinkind noch neugierig und stolz darauf, sich erste sprachliche Haltepunkte zu erobern. „Ich sehe einen Baum und sage ‚Baum‘ “, erinnert die Erzählerin, „ich höre einen Vogel im Garten zwitschern und meine Mutter sagt: ‚Ja, ein Vogel‘.“ Je mehr Wörter das kleine Mädchen jedoch lernt, desto häufiger muss es erfahren, dass die Sprache (und mit ihr die Welt) auch „schmutzige“ Löcher birgt, über die man besser schweigt oder darüber nur in vorgestanzten Floskeln spricht. Da dem Kind zudem niemand dabei hilft, die Bedeutungsebenen zu unterscheiden, mischen sich die Verbote schnell mit typisch-kindlichen Angebersprüchen und Fantasiebildern. Das Geräusch eines geplatzten Autoreifens klingt da auf einmal ebenso überzeugend nach einem tödlichen „Schuss“, wie man den dubiosen Tod des systemfeindlichen Onkels für einen „Autounfall“ halten könnte. Schon bald weiß weder das Mädchen noch der Leser, was „wirklich“ passiert ist und was nur der Einbildung entspringt.

Das Beängstigende am Bericht von Erpenbecks Mitläuferin ist, dass man in deren Unfähigkeit, wichtige von unwichtigen Informationen zu trennen, durchaus Ähnlichkeit zur heutigen Mediengesellschaft herauslesen kann, die ihre „Fakten“ ebenfalls oft genug unkommentiert nebeneinander stehen lässt. Als Kind ist die Erzählerin für ihre angepasste Haltung kaum verantwortlich zu machen, die sich umso sturer an ihre Eltern klammert, je schwammiger die Bedeutung der Dinge ihr erscheinen. Bis sich die Tochter sogar lieber mit dem Vater „auf die Flucht“ an die „Schneegrenze“ des Bewusstseins begibt, anstatt der Wahrheit über die elterlichen Verbrechen ins Auge zu blicken.

Nicht jedem wird Erpenbecks bitterböses Gleichnis auf eine äußerst erfolgreiche Manipulation des Gewissens gefallen, das vor sinnträchtigen, manchmal arg bemühten Anspielungen nur so strotzt. Dennoch gibt es nur wenige jüngere, deutsche Autoren und Autorinnen, die heute eine dermaßen kunstvolle Prosa schreiben.

Jenny Erpenbeck: „Wörterbuch“. Eichborn Berlin, Berlin 2004, 120 Seiten, 14,90 €