piwik no script img

Tokioter Opfer blicken nach New York

Zehn Jahre nach dem Sarin-Gas-Anschlag auf die Tokioter U-Bahn fühlen sich die Betroffenen von Japans Regierung im Stich gelassen und verweisen auf das entschiedenere Vorgehen der US-Behörden nach den Anschlägen vom 11. September 2001

AUS TOKIO MARCO KAUFFMANN

Eine kleine Metallplakette in der Metrostation Kasumigaseki erinnert an den 20. März 1995. Damals stachen fünf Mitglieder der Endzeitsekte Aum in drei U-Bahn-Linien, die sich im Regierungsviertel Kasumigaseki kreuzen, Beutel mit dem Nervengas Sarin auf. 5.500 Menschen wurden verletzt, 12 getötet. Kein Verbrechen der Nachkriegszeit hat Japan so verunsichert wie der Anschlag auf Tokios Untergrund.

Zehn Jahre später leiden noch immer hunderte Überlebende unter Augenschmerzen, Angstzuständen, Fieberattacken. Andere erblindeten oder sind gelähmt und können sich die Behandlung in einer Spezialklinik nicht leisten. „Bis auf den heutigen Tag hat die Regierung kaum einen Finger gerührt, um den Überlebenden zu helfen“, sagt Shizue Takahashi, die einen Verband von Opfern und Angehörigen leitet. Ihr Mann war stellvertretender Stationschef in Kasumigaseki. Mit bloßen Händen entfernte er die Giftbeutel auf dem Zug. Minuten später brach er auf dem Bahnsteig zusammen, kurz darauf war er tot.

Die US-Behörden hätten sich nach dem 11. September viel entschiedener um die Opfer gekümmert, sagt Takahashi. Sie reiste letztes Jahr nach New York, traf Opferhilfeorganisationen und lud sie für dieses Wochenende nach Tokio zu einem Symposium ein, bei dem die ignorante Haltung der japanischen Regierung kritisiert werden soll.

Japanische Opferverbände vermuten, die Regierung halte sich zurück, weil sie den Gasanschlag nicht als Terrorakt gegen den Staat gedeutet haben will. Dies wäre ein Geständnis, dass es Terrorismus im eigenen Land gibt, geplant und ausgeübt von Japanern. Die Regierung beharre darauf, den Anschlag als Tat verwirrter Sektierer zu deuten.

Für Frau Takahashi hat der Staat eine besondere Verantwortung, weil die Behörden zu lange nicht gegen die Sekte Aum Shinrikyo („höchste Wahrheit“) vorgingen: „Die Behörden wussten, wozu diese Organisation fähig ist.“ Aum war schon Anfang der 90er-Jahre verdächtigt worden, einen Sarin-Anschlag verübt zu haben. Doch war sie als religiöse Vereinigung zugelassen und verkaufte Kräutertee und Yogakurse. Gleichzeitig warb Guru Shoko Asahara Wissenschaftler für seine geheime Chemie- und Biowaffenfabrik bei Tokio an. Im Frühjahr 1995 bekam der halb blinde Guru Wind von einer geplanten Polizeirazzia und befahl den „Präventivschlag“ in der U-Bahn.

Asahara, mit bürgerlichem Namen Chizuo Matsumoto, wurde 2004 zum Tod verurteilt. Frau Takahashi, die an 126 Gerichtsverhandlungen teilnahm, hat einen Wunsch: „Matsumto sollte zuerst gehängt werden“, sagt sie in ruhigem, sachlichem Ton. Zwölf Anhänger des Gurus waren bereits vorher mit der Höchststrafe bedacht worden.

Die pseudoreligiöse Organisation hat den Namen gewechselt und ist als „Aleph“ wieder auferstanden. Zwar hat sich die Sekte von Gewalt losgesagt und wird das Aleph-Zentrum in Tokio von der Polizei bewacht, doch für die Frau des getöteten Bahnbeamten Takahashi bleibt ungeheuerlich, wie Asharas Jünger, die einst das Badewasser ihres Gebieters schlürften, weiter unter einem Dach zusammenleben.

Mehrere Opfer des Sarin-Anschlags lehnen es ab, unter ihrem richtigen Namen darüber zu sprechen. Sie fürchten sich vor Repressalien durch die Aum-Nachfolgeorganisation. „Ich hatte auch Angst“, sagt Takahashi, „aber ich bin diesen Kampf meinem Mann schuldig.“ Den Kampf für eine Entschädigung führe sie für jene, die unter finanziell schwierigeren Verhältnissen lebten. Sie sei mit der Witwenrente abgesichert.

Ihre drei Kinder waren 18 bis 21 Jahre alt, als der Vater starb. „Sie wollten sechs Jahre nicht über seinen Tod sprechen.“ Sechs Jahre? „Ich versuchte es, sagte etwa, die Musik im Fernsehen war Vaters Lieblingsmusik, aber sie wurden nur wütend.“ Die Tochter redete erstmals über den Tod des Vaters, nachdem die Mutter in New York mit Hinterbliebenen vom 11. September 2001 zusammengetroffen war.

Jedes Mal, wenn Shizue Takahasi in die Metro steigt, wird sie an die Katastrophe erinnert. Aber, sagt sie: „Mein Mann ist dann mit mir.“ Verärgert ist sie, dass die Regierung zum 10. Jahrestag keine Gedenkfeier veranstaltet. „Vielleicht wird der Premier ein paar Blumen in der U-Bahn niederlegen.“ – Neben der kleinen Metallplakette in der Station Kasumigaseki.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen