Ehrgeiz und Pioniergeist

WESHALB – DESHALB In Leipzig fand zum dritten Mal das Fotofestival F/Stop statt, das auch der Einrichtung eines dauerhaften Zentrums für Fotografie den Weg bereiten soll

Hier wird ein Blick auf fotografische Positionen gewagt, die gerade erst – mitunter erkennbar noch nicht zu Ende – formuliert wurden

VON STEFFEN SIEGEL

Wer ein Buch „Why Photography Matters As Art As Never Before“, also „Weshalb Fotografie als Kunst so wichtig ist wie nie zuvor“ nennt, wird beim kunstverliebten Publikum auf wohlwollendes Verständnis treffen. Mit seiner schwärmerischen Huldigung für Jeff Wall und Andreas Gursky, für Thomas Ruff und Rineke Dijkstra steht der amerikanische Kunstkritiker Michael Fried nicht gerade allein. Ob man froh sein sollte, dass Fried in seiner beinahe vier Pfund schweren Schwarte, die unter eben diesem knalligen Fanfarenstoß im vergangenen Herbst erschienen ist, zwar ein opulentes Klassentreffen all dieser Publikumslieblinge inszeniert hat, aber das mit dem Titel in Aussicht gestellte „deshalb“ am Ende schuldig bleibt?

Mit beeindruckendem Tempo hat sich die künstlerische Fotografie unter die Spitzengruppe der zeitgenössischen Künste gemischt. Wie sehr es lohnt, im Unterschied zu Fried den Blick nicht allein auf zwei Handvoll längst kanonisierter Namen zu richten, sondern ganz im Gegenteil nach vorne zu schauen, hat diese Woche das Internationale Fotografie Festival F/Stop in Leipzig mit unübersehbar ehrgeiziger Geste bewiesen. Die Frage „Von hier aus, wohin?“ gibt Klärungsbedarf, aber eben auch Pioniergeist zu erkennen. Staunenswert schnell ist F/Stop, das dieses Jahr zum dritten Mal stattfindet,im jährlichen Ausstellungskalender angekommen. Und nach zwei Jahren in der Baumwollspinnerei nun auch in der Leipziger Innenstadt. Denn mitten in den Umbauten des Alten Handelshofs zum Fünf-Sterne-Luxushotel fand der einstige Messepalast für sieben Tage noch einmal zu seiner alten Bestimmung zurück.

Die diesjährige F/Stop-Mischung stimmte. Der Rundgang bot nicht allein die willkommene Gelegenheit, Ricarda Roggans strenge Interieur-Tableaus wieder zu sehen oder Hans-Christian Schinks unerbittliche Erkundungen ostdeutscher Landschaften unter den Bedingungen des Verkehrsprojekts Deutsche Einheit. Darüber hinaus ließen sich in Leipzig Entdeckungen machen, denn mehr als nur beiläufig wird hier ein Blick auf fotografische Positionen gewagt, die gerade eben erst und mitunter erkennbar noch nicht zu Ende formuliert worden sind. Richtig ist es, dass auf die genauso gönnerhafte wie betuliche Rede vom künstlerischen Nachwuchs auch dort verzichtet wurde, wo es sich tatsächlich um ebendiesen handeln mag. Stattdessen fanden sich, vom Special Guest Anders Petersen, dessen Sensibilität in der Schilderung psychisch Erkrankter beeindruckt, bis zu den Teilnehmern des Festivals-Wettbewerb, alle Sektionen in ergiebiger Konfrontation zu einem einzigen Parcours vereint.

Es ist ein wenig wie beim Melt!-Festival. Wer sich von hundert und mehr Konzerten in drei Tagen nicht überfordert fühlt, der kann auch 54 verschiedene fotografische Positionen, mehrere Workshops und ein Symposium gut verdauen. Ob jedoch Fotografie tatsächlich geeignet ist, auf Haupt- und Nebenbühnen zu einem atemlosen Festival aufgespielt zu werden? Es gibt Gründe, Zweifel anzumelden. An mehr als einer Stelle droht durch die schiere Vielfalt der ausgewählten Arbeiten die kuratorische Handschrift verwischt zu werden. Überdeutlich wird dagegen der Wille, das Festival endgültig als Pflichttermin des sommerlichen Kunstbetriebs zu etablieren. Auch dann, wenn neben den inzwischen vier Jahrzehnten der Rencontres d’Arles drei Jahre F/Stop notwendigerweise kaum mehr als eine erste Probe aufs Exempel sein können. Der grandiosen Idee jedenfalls, in Leipzig dauerhaft ein Zentrum für Zeitgenössische Fotografie zu errichten, wünscht man eine Vorbereitung, die bedachtsam genug angegangen wird, um nicht gleich ins Stolpern zu geraten.

Denn immerhin sieht man bereits heute in Leipzig Werke, die überzeugende Antworten auf Frieds optimistische Behauptung geben können, Fotografie zähle heute mehr denn je. Ein entschiedenes „deshalb!“ meint man zu hören, wenn man die mit Abstand eindringlichste aller gezeigten Arbeiten gesehen hat. Pepa Hristova führt in ihrer Serie „Sworn Virgin“ die Betrachter in das „Verfluchte Gebirge“ des albanischen Hinterlands und erzählt mit meisterlicher Sicherheit eine kaum fassbare Geschichte vom Rand des Kontinents. Burnesha heißen dort jene Frauen, die beschlossen haben, eine männliche Identität anzunehmen, fortan als Mann zu leben und an die Stelle des fehlenden Familienvaters zu treten. Es ist ein genauso erhabener wie melancholischer Ernst, den Hristova in ihren intimen Porträts schildert. Verstört sucht man in diesen kantig-männlichen Gesichtern nach jenen femininen Spuren, die so bewusst abgelegt worden sind. Je länger man sich aber in einer solchen Suche verliert, umso mehr wird man bemerken, dass es Hristovas Fotografien sind, die einen ganz eigenen Blick auf die Welt formen und daher tatsächlich mehr denn je zählen.