Wattenscheid wird Kulturhauptstadt

taz nrw vor Ort: Im Essener pact Zollverein diskutierten taz-LeserInnen und Kulturschaffende über die Bewerbung des Ruhrgebiets um den Titel Kulturhauptstadt Europas, den Nutzen für die Menschen und darüber, was auf der Erde noch unbekannt ist, im Weltraum aber längst alle wissen

VON BORIS R. ROSENKRANZ

Wenn Politiker aus dem Ruhrgebiet ihre Heimat erklären, üben sie sich selten in Bescheidenheit. Da werden Namen längst ausgewanderter Künstler hochgehalten, da wird runtergeleiert, wie viele Museen, Theater und Konzerthäuser die Region hat, oder von Zentren gesprochen, von Essen, Bochum, Dortmund. „Wo aber ist meine kulturelle Grundversorgung in Wattenscheid“, fragt Wolfgang Wendland, Sänger der Punk-Band Die Kassierer bei einer Podiumsdiskussion der taz nrw in Essen. „In Wattenscheid gebe es definitiv nichts.“ Außer vielleicht der Freilichtbühne, die absurderweise gerne mit der Berliner Waldbühne verglichen werde.

Schon saßen die Federführenden der Kulturhauptstadt-Bewerbung in der Klemme – und machten ein Versprechen, an das man sie erinnern wird: „Wenn es in Wattenscheid tatsächlich so finster ist“, sagt Jürgen Fischer vom Regionalverband Ruhr (RVR), „dann sollte diese Stadt ein zentraler Ort der Kulturhauptstadt 2010 sein.“ Dort könnten Veranstaltungen und Projekte beheimatet werden. Wendland bleibt skeptisch: „Die Kulturhauptstadt wird nicht viel am Ruhrgebiet ändern, genau so wie die Expo nichts an Hannover geändert hat.“

Für Fischer, der beim RVR für die Bewerbung des Ruhrgebiets um den Kulturhauptstadt-Titel zuständig ist, geht es vor allem um das Selbstbewusstsein der Region: Die Bewerbung sei eine Bürgerbewegung, „die den Stolz und die Identifikation mit dem Revier erhöht“. Die Menschen im Pott müssten künftig nicht mehr sagen, sie kämen aus der Nähe von Köln. Schon „aus eigenem Interesse“ sollten sich alle an der Bewerbung beteiligen.

Marlis Drevermann, Kulturdezernentin der Stadt Wuppertal mit Wurzeln im Revier, sieht im Ruhrgebiet eine Region, „die eine Vorbildfunktion einnimmt für andere Regionen, die Nachholbedarf haben“. Kultur, wie sie hier vorhanden sei, stelle für die Darstellung nach innen wie nach außen große Potentiale dar. Nicht einverstanden war Drevermann hingegen mit dem Titel der Veranstaltung, in dem die taz gefragt hatte: „Wie wird der Pott zur Metropole?“ Es sei gerade wichtig, dass der Pott keine Großstadt sei, sondern eher einer Kette ähnele, auf der sich die Städte wie Perlen aneinander reihen.

Der Bochumer Kulturdezernent Hans-Georg Küppers fügte hinzu, dass es auch gar nicht erstrebenswert sei, eine Metropole zu sein. „Die Vielfältigkeit der Kultur hat sich gerade daraus entwickelt, dass wir nebeneinander gewachsen sind.“ Doch Perlen und Metropolen hin oder her. Im Weltraum ist längst bekannt, wie groß das Ruhrgebiet ist. „Viele auf der Erde wissen das noch gar nicht“, raunte Fischer und verwies auf Satellitenbilder, die deutlich drei europäische Metropolen abbildeten: London, Paris und – nun also doch: das Ruhrgebiet.

Soviel zur Identifikation. Doch was ist mit den Summen, die in die Bewerbung fließen? Was mit dem Geld, das für exorbitante Projekte aufgewendet wird? „Der Hype, der um die Jahrhunderthalle in Bochum gemacht wird, nimmt ja schon psychotische Ausmaße an“, sagt Wendland. Dabei sei die ehemalige Industriehalle in der Folgefinanzierung „viel zu teuer“ und somit als Veranstaltungsstätte vollkommen ungeeignet. Der freien Szene bringe der Titel Kulturhauptstadt zudem gar nichts. Junge Bands, die sich mit der Bitte um einen Proberaum an die Städte wendeten, würden auf Wartelisten abgeschoben.

Und wieder ein Versprechen: Fischer forderte die Jugend auf, sich mit ihren Ideen an die Städte und an das Bewerbungsbüro des RVR zu wenden. Vielleicht werde es sogar eine „Stadt der Jugend“ geben, ein Forum, in dem man sich den Wünschen der jüngeren Revierbewohner annehme. Und was die freie Szene betrifft, betonte Küppers, dass die Bewerbung dort kein Geld wegnehme. Zu dem Mosaik gehörten alle: „die freie Szene ebenso wie die großen Häuser“.

Ob das Konzept, dass sich RVR und Essen als Fahnenträger der Bewerbung zurecht gelegt haben, auch auf europäischer Ebene überzeugen kann, wird sich erst in einigen Monaten entscheiden. Das heißt: Zunächst muss der Bundesrat beraten, ob er beide noch im Rennen befindlichen Städte, Essen und das sächsische Görlitz, in die letzte Runde schickt. Sicher ist: nichts. Wichtig ist deshalb, wie die Verantwortlichen die Stadtperlen mittels Kultur zu einer gleichmäßigen Kette knüpfen: „Es geht nicht darum, sich einen Orden an die Brust zu heften“, sagt Küppers. „Wir wollen die Kultur in der Region dauerhaft stärken – auch über 2010 hinaus.“