Ausgestellte Erinnerung

Ein Rock aus Gasmaskenband, ein Griffelkasten, hergestellt von russischen Kriegsgefangenen – mit Alltags-Gegenständen aus persönlichem Besitz von Zeitzeugen erinnert eine Ausstellung an das Kriegsende vor 60 Jahren in Osnabrück

aus OsnabrückThorsten Stegemann

„Als die Engländer kamen, gab es in Osnabrück plötzlich keinen einzigen Nazi mehr“, erzählt ein älterer Herr und erntet Gelächter im Kreis derer, die sich ebenfalls noch gut an die Ereignisse vor 60 Jahren erinnern können. Seit Dezember treffen sich etwa 30 Zeitzeugen in Osnabrücks Kulturgeschichtlichem Museum. Sie tauschen Erinnerungen aus und arbeiten gleichzeitig an einem ungewöhnlichen Projekt. Zahlreiche Exponate, die seit dem 13. März in der Ausstellung „Osnabrück 1945“ zu sehen sind, lagen jahrzehntelang in ihren Schubladen, Kellerräumen und Dachgeschossen.

Dass sie jetzt museumsreif geworden sind, hat nur am Rande mit ihrem beträchtlichen Alter zu tun. Die Alltagsgegenstände aus Privatbesitz erzählen persönliche Schicksale im historischen Kontext. Neben Museumsbeständen wie Volksempfänger, Notküche und Fotografien zeigt die Ausstellung einen Rock aus Gasmaskenband, einen Bunker-Klappstuhl, der während der zahlreichen Bombardements zum Einsatz kam, oder einen Griffelkasten, der von russischen Kriegsgefangenen hergestellt wurde. Die Leihgeberin weiß noch, dass ihre Großmutter den Kasten geschenkt bekam, weil sie den Gefangenen heimlich Brot gebracht hatte.

Die Exponate und ihre auf Begleittafeln erzählten Geschichten sind spannend, rührselig, manchmal unheimlich und bisweilen eigenartig fremd. Sie verraten viel über die letzten Monate des Krieges und die ersten Gehversuche nach dem Zusammenbruch des „Tausendjährigen Reiches“. Gleiches gilt für die wöchentlichen Führungen, die von einzelnen Leihgebern begleitet werden, um den Besuchern ihre Lebenslagen und Erinnerungen persönlich zu schildern. Da wird über Fluchterlebnisse und Alltagsgeschehen berichtet, es geht um die Situation in der Schule und an der Front, und immer wieder kommen die Erlebnisse in den Bombennächten zur Sprache.

Deutlich wird vor allem, dass es für die Zeitzeugen keine gemeinsame Geschichte des Jahres 1945 gibt. Während die 75-jährige Hertha Hesse den Besuchern von ihrer schwierigen Flucht aus Königsberg bei minus 30 Grad berichtet, erinnert sich der frühere Bahninspektor und zwei Jahre ältere Horst Jung an alle Einzelheiten jenes Apriltages im Jahr 1945. Wie es war, als englische und kanadische Verbände in die Stadt kamen und der Zweite Weltkrieg für Osnabrück beendet war: „Auf der Iburger Straße hörte ich schon die Panzer. Ich habe mir dann Zivil angezogen und zugesehen, wie die Engländer in die Stadt kamen. Das ging alles sehr schnell, und die Räumpanzer haben sofort die Hauptverbindungsstraßen freigemacht.“ Auf die Frage, was ihm damals durch den Kopf gegangen sei, hat Jung eine verblüffend simple Antwort: „Das war’s. Jetzt bloß ab nach Hause!“

Uneinig sind sich die Osnabrücker Zeitzeugen insbesondere, wenn es um die Bewertung und historische Einordnung ihrer Erlebnisse geht. Vielen ist bis heute die Erleichterung anzumerken, dass mit dem Krieg auch die Jahre der nationalsozialistischen Indoktrination endeten, die sich nach übereinstimmender Aussage vor allem an den Schulen bemerkbar machte. „Viele Leute waren total verblendet und ließen sich auch durch die schrecklichen Nachrichten über Konzentrationslager, die bisweilen durchsickerten, nicht beirren. Dann hieß es immer: ’Davon weiß der Führer nichts’ “, erinnern sich mehrere Zeitzeugen.

Andere weigern sich auch nach 60 Jahren hartnäckig, den April 1945 mit dem Stichwort „Befreiung“ zu assoziieren. Sie empfinden das Kriegsende offensichtlich noch immer als eine Mischung aus persönlicher Niederlage und nationaler Schande. Sogar gegen die englische Besatzungsmacht, die von der überwiegenden Mehrheit als „denkbar beste“ beschrieben wird, machen sie Vorwürfe in einschlägiger Tonlage geltend: „Dem Räubern und Drangsalieren seitens der Ausländer wurde kein Einhalt geboten“, heißt es in einer persönlichen Notiz eines Teilnehmers.

Im Vergleich zu zwölf Jahren nationalsozialistischer Terrorherrschaft ist dieser Satz sicherlich keine angemessene Beschreibung für den Osnabrücker Nachkriegsalltag. Doch damit müssen die Organisatorinnen leben, wenn sie historische Fakten und persönliche Erinnerungen so nahe zusammenstellen. Bei ihren Führungen und in Gesprächen mit Besuchern machen Museumsdirektorin Eva Berger und Kuratorin Antje Naujock deshalb unmissverständlich deutlich, dass die Ursachen für das Leid der deutschen Zivilbevölkerung in Deutschland selbst gesucht werden müssen. Viele Zeitzeugen sehen das mittlerweile genauso und versuchen, den jüngeren Generationen etwas vom eigenen Lernprozess mitzuteilen. „Ich bin der Idee des Pazifismus durch meine Erlebnisse sehr nahe gekommen“, sagt die Zeitzeugin Hertha Hesse, und die Teilnehmer ihrer Führung machen durchaus den Eindruck, als ob sie verstanden hätten, warum das so ist.

„Osnabrück 1945“: Ausstellung anlässlich des 60-jährigen Kriegsendes bis 5. Juni im Kulturgeschichtlichen Museum Osnabrück/Felix-Nussbaum-Haus, Lotter Straße 2. Geöffnet Di bis Fr 11 - 18 Uhr, Sa/So 10 - 18 Uhr.