der silberhochzeitskuchen von RALF SOTSCHECK
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Wenn man bloß etwas geistesgegenwärtiger wäre. Als die Nachbarn uns zu einer kleinen Feier anlässlich ihrer Silberhochzeit einluden, fiel mir keine geeignete Ausrede ein. Wegen meines kläglichen Gesichtsausdrucks vermuteten sie zu Recht, dass mir der Termin nicht passte, ahnten aber nicht, dass mir auch kein anderer Termin gelegen käme. „Ich bin nur überrascht, dass ihr schon so lange verheiratet seid“, log ich, „so alt seht ihr gar nicht aus.“ Mein Erröten missdeuteten sie als Vorfreude auf die Feier und erklärten, dass es sich ja nur um einen kleinen Umtrunk mit Schnittchen und Kuchen handle. „Aber einen ganz besonderen Kuchen“, fügten sie hinzu.

Das hatte ich befürchtet. Bei irischen Hochzeiten kommt stets ein dreistöckiger Kuchen auf die Festtafel. Hat das unterste Stockwerk einen Durchmesser von 12 Zoll, also die Größe einer Langspielplatte, muss man für das Gesamtgebilde rund 400 Euro hinblättern. Extras wie handgeformte Zuckerblumen, farbige Glasur, mundgeblasene Überrollbügel oder ein plastenes Brautpaar als Krönung für das oberste Stockwerk kosten mehr. Das schreckt freilich niemanden ab, den Festtagskuchen mit allen Schikanen ausstatten zu lassen.

In keinem Hochzeitsalbum fehlt das Foto vom glücklichen Brautpaar, das mit einem riesigen Messer gemeinsam den Monsterkuchen anschneidet. Die Verwandtschaft, die es aus irgendwelchen Gründen nicht zur Hochzeit geschafft hat, bekommt ein Stück Kuchen per Post. Zu diesem Zweck bieten sie in den irischen Schreibwarengeschäften kleine, silberfarbene Spezialschachteln an, in denen das Gebäck bruchsicher nach Übersee expediert werden kann.

Weniger harmlos ist der Brauch, das mittlere Kuchenstockwerk bis zur Taufe der ersten Kindes und das obere Stockwerk bis zur Silberhochzeit aufzubewahren. Der Kuchen enthält deshalb nicht nur Rosinen, Mandeln, glasierte Kirschen und Gewürze, sondern jede Menge Whiskey. Dadurch ist er bis zum Sanktnimmerleinstag haltbar.

Der war nun gekommen. Es gab keine Ausflüchte mehr. Die Nachbarn hatten neben den üblichen Zutaten auch jede Menge Kümmel in den Kuchen gegeben. Der verband sich mit den glasierten Kirschen und dem Whiskey zu einem Geschmackserlebnis, das unter die Kategorie „Überlebenstraining“ fiel. Dem Zuckerguss sah man sein Alter auf den ersten Blick an. Janet von gegenüber täuschte eine Kümmelallergie vor, wurde aber entlarvt, weil sie an ihrem Geburtstag eine Woche zuvor einen Hammeleintopf mit Kümmel serviert hatte. Ihr Mann Oscar versuchte vergeblich, die betagte Backware dem Hund anzudrehen. Sohn Richard vergrub den kulinarischen Albtraum in den Geranien.

Wir andern, die im Blickfeld der Gastgeber saßen, hatten keine Chance. Das fischstäbchengroße Stück Kuchen lag uns wie ein Wackerstein im Magen. Kurz bevor wir das Weite suchten, rezitierte die Gastgeberin ein Sprichwort: „Wenn die Schwiegermutter ein Stück Kuchen auf dem Kopf der Braut zerbröselt, wenn sie nach der Hochzeitsfeier nach Hause kommt, werden sie Freundinnen fürs Leben.“ Für Nachbarn gilt das nicht. Es dauerte Stunden, bis die Silberhochzeitsbraut die klebrige Masse aus den Haaren gewaschen hatte.