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■ Der Bundespräsident sprach vor den Unternehmern. Dabei ließ er keine neoliberale Vokabel aus, sagen die einen; Recht hat er, meinen die anderen LeserInnenGerechtigkeit mit Horst Köhler

betr.: „Eine Stimme unter vielen“, Kommentar von Bettina Gaus, „Köhler auf den Hund gekommen“, taz vom 16. 3. 05

Die Rede von Bundespräsident Horst Köhler wird genauso wenig bewirken wie die Hauruckrede (1997) seines Vorgängers Roman Herzog (CDU). Selbst der Hinweis, dass uns in Deutschland die Arbeit ausgeht und immer mehr Vollzeitarbeitsplätze verloren gehen, fehlte. Der Inhalt seiner arbeitgeberfreundlichen Ausführungen brachte nichts Neues. Die Riesenprobleme der Arbeitslosen mit der Hartz-IV- Gesetzgebung wurden in der Rede mit keinem Wort erwähnt. Es ist schon bezeichnend, dass Horst Köhler wie Roman Herzog vor einem Arbeitgeberforum mit geladener Prominenz gesprochen haben und wie immer unter Ausschluss derjenigen, die es in erster Linie betrifft: die über 5,2 Millionen registrierten Arbeitslosen und ihre Familien. ALBERT ALTEN, Wernigerode

Es mag ja sein, dass Herr Köhler nur eine Stimme unter vielen ist, aber ihm hören die Menschen wenigstens noch zu! Was unsere anderen Politiker momentan von sich geben, ist nicht mehr zu ertragen, aber da sie selbst sich so gerne reden hören, stört es ja auch nicht, wenn keiner zuhört! Was in diesem Land passiert, ist unglaublich, und es gibt täglich mehr Deutsche, die sehr konkrete Pläne haben, wie sie sich schnellstmöglich in Sicherheit bringen und dieses Land verlassen! Vielleicht schafft es Herr Köhler, dass ein paar doch noch bleiben. HEIDI BUS, Wilhelmshaven

Die vom Bundespräsidenten unterbreiteten Problemlösungsvorschläge haben einen ganz entscheidenden Nachteil. Sie entspringen samt und sonders seiner rein fiskalischen Betrachtungsperspektive und sind damit leider nur eine falsche Verheißung. Diese allgemein stark verengte Sicht der Dinge ist nicht nur fatal und weitgehend ignorant, sie ist die eigentliche Ursache für die sich national und international verschärfenden Probleme.

Der globalisierte Markt produziert doch gerade die verhängnisvolle Situation, dass immer mehr Menschen zu Verlierern eines bisher stets hoch gelobten Systems werden. Und bei dem nur wenige immer stärker absahnen. Dieses praktizierte System ist daher vollkommen ungeeignet, die selbst produzierten Probleme auch noch einer Lösung zuzuführen. Dass die heutige politische Meinungsführerschaft diesen Weg gar als alternativlosen Königsweg betrachtet, ist Ausdruck einer geistigen Armut besonderer Qualität.

Die Tugenden der Vergangenheit mögen nicht falsch gewesen sein. Ob sie aber heute wirklich als allein richtiger Lösungsansatz geeignet sind, ist mehr als fraglich. Die früheren Erfolgstugenden stoßen heute auf einen total unfairen europäischen und globalen Wettbewerb, bei dem die Tüchtigkeit allein allzu oft gar nichts mehr bewirkt. Die immer höheren Renditeansprüche des global agierenden Kapitals machen alles platt und reduzieren die menschliche Existenz auf eine würdelose kalkulatorische Größe. Diesem Problem wird man nicht mit noch mehr Marktgläubigkeit und globalem Chaos beikommen, sondern nur durch eine reglementierte Weltordnung mit einem Wiederaufleben nationaler – staatlicher und persönlicher – Verantwortlichkeit. KLAUS LACHENMAIER, Empfingen

Es ist schon interessant, ein Rede zum Thema Freiheit vor Wirtschaftsbossen zu halten und dabei die Begriffe Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit nicht mal in den Mund zu nehmen. Dafür ließ der Bundespräsident keine neoliberale Vokabel und kein neoliberales Rezept beim Thema Massenarbeitslosigkeit aus. Da ist es offensichtlich auch egal, dass er hinter den internationalen Debatten zurückbleibt. Noch nicht mal richtig im Amt angekommen, geht er den Weg zurück zum neoliberalen Vordenker. Der Bundespräsident hat sich damit keinen Gefallen getan. Er ist nunmehr Teil der Inszenierung zwischen SPD und CDU geworden. MICHAEL GRUNST, Berlin

Köhler hat Recht. Natürlich hat sich „das Volk“ sowohl von der Regierung Kohl wie auch von Schröder immer wieder neue Wohltaten versprechen lassen. Dass die Bürger diese „Geschenke“ auch mit ihren eigenen Steuern bezahlen, macht es nicht besser. Hat man weniger in der Kasse, fallen auch die Geschenke kleiner aus bzw. müssten kleiner ausfallen. Dass wir über unsere Verhältnisse leben, ist doch schon lange bekannt. Die Zeiten sind vorbei, wo es gereicht hat, das politisch und sozial Wünschenswerte zu postulieren und, Wirtschaftsaufschwung sei Dank, die Kohle für die Umsetzung schon irgendwie zusammenzukratzen. Soziale Gerechtigkeit verändert sich mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. In der Geschichte haben sich immer die Systeme durchgesetzt, die schnell und flexibel auf Veränderungen reagiert haben. Aber pfui, das klingt schlimm nach Darwinismus. PHILIPP BEHRENS, Mannheim

Da zeigt sich unser Bundespräsident als neoliberale Marionette der Wirtschaftslobby, und da wird ihm, wenn auch indirekt Mut attestiert. Dieser Bundespräsident vertritt nicht Deutschland, er vertritt die Arbeitgeber. UWE SAFIKA, Hückelhoven

Dem Ziel, Arbeitsplätze zu schaffen, ist alles unterzuordnen? Alles??? Herr Köhler, darf ich Sie fragen, warum Sie immer noch Bundespräsident sind? Die einzige Politikform, in der die Politik Arbeit schaffen kann, ist die Diktatur, weil nur die Diktatur die Mittel hat, die Menschen – legitim – zu allem zu zwingen.

Aber vielleicht ist der Mensch ja doch mehr als nur eine Arbeitskraft. Vielleich dringt irgendwann die Erkenntnis zu uns durch, dass die Wirtschaft dem Menschen dienen sollte und nicht umgekehrt. Vielleicht verstehen wir irgendwann einmal, dass „die Wirtschaft“ kein Selbstzweck ist, sondern nur Mittel zum Zweck. Und vielleicht begreifen wir dann auch noch, dass es vor allem unser Wirtschaftssystem ist, welches seinem Zweck, dafür zu sorgen, dass es allen Menschen besser geht, im Wege steht. MEIKE HENERS, Aachen

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