: Stille Ideen durch den Fleischwolf gedreht
Norderstedt im Speckgürtel Hamburgs ist Vorreiter bei der Umsetzung der EU- Umgebungslärmrichtlinie: Während die Bundesregierung noch über die Umsetzung debattiert, erarbeitet ein Team hier ein Lärmminderungsprogramm
HAMBURG taz ■ „Warum kaufen Sie erst ein Haus im Ebereschenweg und beschweren sich dann?“ Die dezent gekleidete Dame ist entrüstet. Der Angesprochene ein paar Stuhlreihen weiter kontert: „Vor 30 Jahren war doch gar nicht abzusehen, dass der Verkehr so zunimmt!“ Misstöne auf dem Forum im Rathaus Norderstedt: Bürger streiten um ihre Ideen zur Lärmminderung.
Die 72.000-Einwohner-Stadt nördlich von Hamburg ist Vorreiterin bei der Umsetzung der 2002 von der EU-Kommission erlassenen Umgebungslärmrichtlinie. Nach dieser müssen die Mitgliedsstaaten sämtlichen Lärm, der von Straßen, Schienen, Flughäfen und Ballungsräumen ausgeht, untersuchen und kartieren. Das Ergebnis muss dann der EU-Kommission gemeldet; unter öffentlicher Beteiligung müssen so genannte Aktionspläne zur Lärmminderung entwickeln werden. Und zwar mit Fristen: für stark lärmbelastete Gebiete bis 2008, für die weniger stark belasteten bis 2013.
Bislang lief das so: Nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz konnten Städte Lärmminderungspläne aufstellen. Doch obwohl sich laut Umfrage des Umweltbundesamts 64 Prozent der Menschen durch Alltagslärm gestört fühlen, nutzten nur wenige Kommunen diese Möglichkeit. Norderstedt aber sammelte Daten. Die gingen dann ins Hamburger „Lärmkontor“, wo berechnet wurde, wie hoch die Schallimmissionen und wie viele Menschen betroffen sind. Strategische Lärmkarten bewiesen, dass Straßenverkehr den meisten Lärm macht. Krach herrscht an Verkehrsknoten wie auch auf vielen Nebenstraßen. 10 Prozent der Norderstedter, so die Untersuchung, leiden unter der Dauerbelastung so stark, dass Krankheitssymptome auftreten.
1970 aus vier Dörfern zur Stadt zusammengewachsen, expandierte Norderstedt vor allem durch den Zuzug vieler Hamburger. Die Autodichte liegt mit 761 Pkws je 1.000 Einwohner höher als im Bundesdurchschnitt (650 Pkws pro 1.000).
Dennoch glaubt Anne Ganter vom Fachbereich Umwelt der Stadt, dass „Norderstedt vergleichsweise gute Chancen hat, aus eigener Kraft des Verkehrslärms Herr zu werden“. Deshalb wollte Norderstedt Modellstadt werden: Zum Auftakt vor 9 Monaten bildeten sich Arbeitsgruppen, die bis Sommer 2005 Vorschläge prüfen sollen – etwa Tempo 30, schallschluckende Straßenbeläge oder neue Radverkehrsnetze. Alle Ideen werden vom Aachener Planer Jochen Richard zu einem Aktionsplan zusammengeführt. „Wir drehen alles durch den Fleischwolf“, kündigt er an, „manche Maßnahmen widersprechen einander. Aber jeder Vorschlag wird betrachtet.“ Weniger Autoverkehr – das sagt sich so leicht. Lärm wird logarithmisch berechnet: Wer den Lärm um „nur“ 3 Dezibel verringern möchte, muss den Verkehr um die Hälfte reduzieren. Tatsächlich nimmt der Verkehr aber zu – in Norderstedt wie in ganz Europa. Die Mitwirkenden haben in Norderstedt schon gelernt, großräumlich zu denken. Straßenbauvorhaben werden kritischer gesehen. Als der Baudezernent das Einkaufszentrum besser für den motorisierten Verkehr erschließen wollte, empörte sich das Anti-Lärm-Team: „Können wir nach Hause gehen oder was?“ Mit Erfolg.
Die Bundesregierung ratifiziert derzeit die EU-Richtlinie, hat aber noch keine Finanzmittel eingeplant. Dabei wären die gut angelegt: Gesunde Menschen kosten weniger. Und Christian Popp vom Lärmkontor schätzt: „Bei Lärm über 50 Dezibel verursacht jedes weitere Dezibel ein halbes Prozent Wertminderung der Grundstücke.“ Das müsste auch Eigenheimbesitzer überzeugen. KARIN ZICKENDRAHT
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