Die Tochter der Hamsterinsel

1945 jenseits der Hauptkriegsschauplätze (Teil 3)

AUS DUBLIN RALF SOTSCHECK

Als der Krieg vorbei war, kamen die Engländer. „In Großbritannien gingen die Rationierungen bei Lebensmitteln und Kleidung noch lange weiter“, erzählt Sylvia Meehan, „und so kamen die Menschen nach Irland.“ Und die staunten nicht schlecht über die Steaks, die es überall gab, „sie freuten sich sogar über Sodabrot und Butter, weil sie das lange nicht mehr gegessen hatten“.

Sylvia Meehan ist 75, sie ist klein, ein wenig rundlich, trägt eine große Brille, eine Dauerwelle und altmodische Kleidung – eine typische irische Oma eben. Doch sie ist in ihrem Leben oft unterschätzt worden. Wenn es darum geht, Rechte für Frauen oder für alte Menschen zu erkämpfen, legt sie noch immer eine Hartnäckigkeit und ein Durchsetzungsvermögen an den Tag, die man ihr auf den ersten Blick nicht zutraut.

Als der Krieg ausbrach, war Sylvia Meehan zehn Jahre alt. „Ich bin in Drumcondra in Norddublin aufgewachsen“, erzählt sie, „eine hübsche Gegend, aber langweilig.“ Am 1. September 1939 aber ist die Arzttochter auf dem Land bei einer Tante in Carlow. „Ich erinnere mich noch genau an den Tag“, sagt sie: „Wir saßen in der Küche, im Kamin brannte ein großes Feuer. Im Radio wurde Chamberlains Rede übertragen: Der Krieg habe begonnen, sagte er. Meine Tante, die im Ersten Weltkrieg Erfahrungen mit Rationierungen gemacht hatte, kaufte sofort eine große Kiste Tee.“

Die Rationierungen hielten sich dann aber in Grenzen. Nadel und Bindfaden waren knapp, das Mehl war braun und grobkörnig. „Wir siebten es durch Seidenstrümpfe, damit es etwas feiner wurde“, erzählt Meehan. „Aber hungern mussten wir deswegen nicht.“ Nur etwas kälter wurde es Anfang der 40er-Jahre, Brennstoff wurde verknappt. „Am Morgen gab es für eine Stunde Gas, und mittags noch mal für zwei Stunden“, erzählt Meehan. „Aber ein Rest, ein Glimmer, blieb in den Leitungen – genug, um eine Suppe warm zu halten.“ Das war streng verboten, und die Regierung stellte so genannte Glimmermänner ein, die wie die Polizei Zugangsrecht hatten. Die Leute schalteten den Gasherd schleunigst ab, wenn es an der Tür klopfte. Aber der Glimmermann kontrollierte, ob der Suppentopf noch warm war und stellte zuweilen für eine Weile das Gas dann ganz ab. „Der Glimmermann war bei der Bevölkerung ungefähr so beliebt wie der Steuerbeamte.“ Mit dem Kriegsende besserte sich die Situation recht schnell, Irland konnte wieder Kohlen aus England importieren.

Es waren aber die Nachrichten, die während des Krieges am stärksten rationiert waren. Und hier hamsterte Sylvia Meehan. „Ich las jeden Tag Zeitung“, sagt sie, „aber die Regierung achtete peinlich darauf, dass nichts geschrieben wurde, was die irische Neutralität gefährden konnte.“ So war nicht nur die Presse zurückhaltend, Kinofilme durften nicht gezeigt werden, wenn irgendein Krieg darin vorkam. Selbst das Wort „Krieg“ war verpönt: In Irland hieß der Zweite Weltkrieg „The Emergency“ – der Notstand. Das Neutralitätsdenken ging sogar so weit, dass sich der irische Premier Eamonn de Valera zum Kriegsende in der deutschen Botschaft in die Kondolenzliste für Hitler eintrug.

Ganz ungeschoren kam Irland dennoch nicht davon. Im Mai 1941 bombardierten deutsche Flugzeuge Dublin. „Bei uns gingen von der Druckwelle alle Fensterscheiben kaputt“, sagt Meehan, „und die Dubliner Synagoge wurde zerstört.“ Das war Zufall, mutmaßte der britische Premierminister Winston Churchill nach dem Krieg: Die deutschen Bomber hatten wohl die Orientierung verloren, weil ihre Navigationssignale durch die britischen Abwehrsender gestört worden waren, glaubte er. Sie wähnten sich über Cardiff, als sie ihre Bomben abwarfen.

Darauf deutet auch ein Zwischenfall zwei Tage zuvor hin, als schon einmal deutsche Flugzeuge über Irland aufgetaucht waren. Doch sie bemerkten offenbar den Fehler, drehten ab und warfen die Bomben über dem Meer ab. Beim zweiten Mal hatte die Insel weniger Glück. 34 Menschen kamen ums Leben, 90 wurden verletzt, mehr als 300 Häuser wurden in Dublin zerstört. Die irische Regierung protestierte und stellte vorsichtshalber „Bunker“ auf: kleine Betonkästen, die mitten auf die Straßen gestellt wurden. „Das war mehr eine kosmetische Übung“, sagt Sylvia Meehan, „einen Schutz vor Bomben hätten sie kaum geboten, aber es fielen ja zum Glück keine mehr.“

Anders in Belfast, das zum Vereinigten Königreich gehört und mit der Rüstungsfirma Short und der Werft Harland and Wolff, wo die „Titanic“ gebaut wurde, über kriegswichtige Industrieanlagen verfügte. In der Nacht des 15. April 1941 griffen 180 deutsche Flugzeuge die nordirische Hauptstadt an und legten die kleinen, verwinkelten Arbeiterviertel in Schutt und Asche. Sogar die deutschen Bomberpiloten beschrieben später, wie überrascht sie waren, dass Belfast so schnell lichterloh brannte. Abgesehen von London, starben in dieser Nacht mehr Menschen bei einem einzigen Angriff, als in jeder anderen britischen Stadt – einschließlich Coventry. Die irische Regierung schickte mehrere Löschzüge, zog sie aber schon am nächsten Tag wieder zurück, um die Nazi-Regierung nicht zu verärgern.

Danach setzte jeden Abend ein Massenexodus aus Belfast ein. Zehntausende Menschen flohen aus Angst vor weiteren Angriffen aufs Land. „Viele übernachteten einfach auf Feldern und wagten sich erst bei Tagesanbruch zurück in die Stadt. Manche, die Verwandtschaft in Südirland hatten, rückten für den Rest des Krieges dorthin aus“, erzählt Meehan. Sie verfolgte die Berichte darüber vor allem im Observer, der englischen Sonntagszeitung.

„Ich las ohnehin sehr viel in jener Zeit“, sagt sie. „Nach dem D-Day, der Invasion in der Normandie, verfolgten meine Freundinnen und ich den Vormarsch der alliierten Truppen auf dem Atlas. Dadurch lernten wir mehr über Geografie als in der Schule.“ Für junge Mädchen gab es ohnehin nicht viel Freizeitbeschäftigung, die katholische Kirche hatte das Leben der Nation fest im Griff. „Sonntagsmesse und Beichte waren Teil unseres Lebens“, sagt Meehan. „Der Einfluss der Kirche war so groß, dass uns das völlig normal erschien. Die Regierung zensierte die Zeitungen, die Kirche schloss die Bücher in den Giftschrank. Fast alles, was irische Schriftsteller über Irland schrieben, war verboten. Das Ende des Weltkriegs änderte daran natürlich nichts, obwohl wir nun Möglichkeiten hatten, uns die Bücher von Englandreisenden mitbringen zu lassen. Im Grunde waren es harmlose Bücher, mir war rätselhaft, warum die Kirche sie überhaupt auf den Index gesetzt hatte.“

Ihre Belesenheit kam ihr nach dem Krieg zugute. Sie besuchte das University College Dublin und gewann als erste Frau den jährlichen Debattenwettbewerb. Nach dem Abschluss arbeitete sie in der Universitätsbücherei, verliebte sich in ihren Kommilitonen Denis Meehan und heiratete ihn. Dadurch verlor sie automatisch ihren Job: Die irische Verfassung von 1937 verfügte, dass Frauen am Tag ihrer Hochzeit den öffentlichen Dienst verlassen mussten. Sylvia wurde Hausfrau, bekam drei Söhne und zwei Töchter. Damit war ihr Leben eigentlich vorgezeichnet. Dann kam es anders.

„Als Denis 1969 starb, wurde mein Leben furchtbar langweilig“, sagt sie. Er hatte ihr keine Lebensversicherung oder Rente hinterlassen. Die damals 40-Jährige begann, an einer Schule in Dublin zu unterrichten und wurde schließlich stellvertretende Direktorin. Sie engagierte sich in der Gewerkschaft, man machte sie zur Frauenbeauftragten des Gewerkschaftsbundes.

Als die Behörde für die Gleichstellung von Frauen 1977 gegründet wurde, bekam Meehan den Job als „Chairman“ – als Vorsitzender. Es dauerte Jahre, bis die Beamten einwilligten, den Titel in „Chairperson“ umzuwandeln. Bei den offiziellen Stellen nahm sie niemand ernst. Die Behörde war nur deshalb gegründet worden, weil die Europäische Gemeinschaft bei Irlands Beitritt 1972 verlangt hatte, dass Frauen bei Jobvergabe und Bezahlung gleichgestellt wurden. Doch Meehan hatte keineswegs die Absicht, als Feigenblatt zu dienen. In jahrelangem zähem Kampf setzte sie fast im Alleingang Gesetze zur Gleichstellung von Frauen, zur Kinderbetreuung und gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz durch, die heute als selbstverständlich gelten.

Nach ihrer Pensionierung setzte sie sich keineswegs zur Ruhe: 1999 berief man sie in den UN-Ausschuss zum Internationalen Jahr der älteren Menschen. Sie ist Mitbegründerin und Präsidentin des irischen Altenparlaments und irische Delegierte bei der „European Older People’s Platform“ in Brüssel.

„All das war damals, im April 1945, nicht vorauszusehen“, sagt sie. „Ich war ein junges Mädchen, gerade mal 16 Jahre alt, und wollte Rechtsanwältin werden.“ Vom Tag des Kriegsendes ist ihr vor allem ein Ereignis im Gedächtnis geblieben: „Jemand klettert am Trinity College in Dublin auf den Fahnenmast, nimmt die irische Flagge herunter und hisst stattdessen den Union Jack. Der blieb aber nur ein paar Minuten hängen. Dann kletterten andere Leute hoch und brachten die irische Trikolore wieder an. Schließlich waren wir ja neutral.“