Delfin und Homo sapiens haben viel gemeinsam

Echtes Zählen gibt es zwar nur beim Menschen. Dennoch haben viele Tiere, vor allem Wirbeltiere, grundlegende numerische Fähigkeiten. Der kluge Noah kann nicht nur Mengen, sondern auch Muster unterscheiden. Anders als der Mensch benutzt der Delfin dafür seine linke Gehirnhälfte

Gute Noten in Mathematik bescheinigt Annette Kilian von der Fakultät für Psychologie an der Ruhr-Uni Bochum ihrem Schüler Noah: Der Delfin des Tiergartens Nürnberg, der für ihre Doktorarbeit über die visuellen Fähigkeiten beim Großen Tümmler Tursiops truncatus die Schulbank drückte, kann unterschiedlich große Mengen unterscheiden und nach Größe sortieren. Dabei nutzt er seine linke Gehirnhälfte – anders als der Mensch, bei dem eher die rechte Gehirnhälfte für non-verbale numerische Aufgaben zuständig ist.

Nicht selbstverständlich ist es, dass man sich an der Fakultät für Psychologie mit Tieren beschäftigt. „In Deutschland ist das tatsächlich nicht sehr verbreitet“, sagt Annette Kilian. In den USA sei dies anders. Schon seit den 1970er Jahren sind Delfine dort ein Thema: Der „Papst der Delfinforschung“ Louis Herman betreibt auf Hawaii das renommierte „Dolphin Institute“. Auch Kilian ist Biologin. In Bochum forscht sie im Grenzbereich zwischen Biologie, Medizin und Psychologie. Nicht nur über den Menschen erfährt man etwas durch die Forschung am hoch entwickelten Säugetier Delfin, auch über die ganze Evolution der Arten. Verwandtschaften zwischen Delfin und Homo sapiens werden so deutlicher.

„Echtes Zählen“ etwa findet man zwar nur beim Menschen. Dennoch haben viele Tiere, vor allem Wirbeltiere, grundlegende numerische Fähigkeiten, wie zum Beispiel die Unterscheidung von Mengen. Der elf Jahre alte Delfin Noah konnte aus zwei verschiedenen, die ihm auf großen schwarzen Tafeln unter Wasser dargeboten wurden, immer die kleinere wählen. Natürlich nachdem er gelernt hatte, dass es dafür eine Belohnung gab. Die Auswahl der kleineren Menge gelang ihm unabhängig von Größe, Form und anderen Merkmalen. Außerdem konnte er auch neue Anzahlen in die richtige Reihenfolge bringen, also ordinale Beziehungen herstellen: Er wählte spontan immer die kleinere Anzahl, auch wenn er sie zuvor nicht kannte, konnte etwa von zwei kleiner drei schließen, dass auch eins kleiner zwei ist.

„Diese Fähigkeit, Dinge zahlenmäßig zu erfassen weist auf das Vorhandensein von Gehirnstrukturen hin, die Delfinen bei der Erfassung ihrer Umwelt nützlich ist“, sagt Annette Kilian. Die Begabung, Mengen zu ordnen, zeigt sich beim Menschen erst im frühen Kleinkindalter. Sie ist aber Voraussetzung zum späteren Zählen. „Dass der Delfin und andere Tierarten darüber verfügen, macht deutlich, dass die evolutionären Wurzeln unseres numerischen Wissens bereits bei Tieren zu finden sind“, so die Bochumer Forscherin. Die evolutionäre Entwicklung der Wale und Delfine trennte sich von der an Land lebender Säugetiere schon vor etwa 60 Millionen Jahren. „Die Anpassung an den Lebensraum im Wasser hatte viele anatomische und physiologische Veränderungen zur Folge, die auch die Struktur des Gehirns betreffen“, erläutert Kilian. Beim Menschen sind Unterschiede zwischen der rechten und linken Gehirnhälfte seit langem bekannt. So ist beispielsweise die linke Hirnhemisphäre bei den meisten Menschen im Vorteil, wenn es um sprachliche Aufgaben geht. In den letzten Jahrzehnten zeigte eine Vielzahl von Untersuchungen an unterschiedlichen Wirbeltierarten, dass es auch bei Tieren funktionelle Asymmetrien zwischen den Hirnhälften gibt.

Auch bei Delfinen vermutete man sie, vor allem beim Sehen. Um diese Vermutung zu prüfen, deckte Kilian dem Delfin vorübergehend je ein Auge ab und bot ihm dann visuelle Reize dar. Auf Grund der Kreuzung der optischen Nerven erreicht die visuelle Information eines Auges primär die entgegengesetzte Hirnhälfte. Der Delfin erreichte bei numerischen Aufgaben mit dem rechten Auge bessere Leistungen als mit dem linken Auge, was auf einen Vorteil der linken Hirnhälfte bei dieser Aufgabe hinweist. Beim Menschen ist das umgekehrt. „Wir können mit der rechten Hirnhälfte besser solche numerischen Reize verarbeiten“, erläutert Annette Kilian.

Auch bei der räumlichen Orientierung kam der Delfin bei geöffnetem rechten Auge besser klar, auch hier dominiert die linke Hirnhälfte. „Delfine sind hier offensichtlich anders ausgerichtet als verwandte Tierarten,“ sagt Kilian. Dies sei ungewöhnlich, da man unter den Säugetieren für einige Funktionen recht ähnliche Links-Rechts-Muster findet. Dies lege die Vermutung nahe, dass die funktionelle Gehirnstruktur bei Delfinen im Laufe ihrer Evolution drastische Veränderungen erfahren hat.

HOLGER ELFES