Eine Welle der Hilfsbereitschaft

Dass der Supergau in Tschernobyl noch nicht von anderen Schreckensmeldungen seither überstrahlt ist, liegt auch an den vielen reisenden Kindern aus dem Katastrophengebiet. Eine Vielzahl von privaten Initiativen macht diese glücklichen Ferien im Westen möglich. Von einem Vorzeigemodell aber möchte Sebastian Pflugbeil dennoch nicht sprechen

Ihr Kinderlein kommet: Nicht nur die kleine Gruppe aus Beslan (siehe „Auf Seelenfrische“), sondern Tausende Jungen und Mädchen reisen in jedem Jahr aus den GUS-Staaten zu Gasteltern in den Westen, lernen das süße Leben kennen und kehren, beladen mit Geschenken, in ihre Heimatorte zurück. Sie stammen aus den Regionen in Weißrussland (Belarus) und der Ukraine, die von der Katastrophe in Tschernobyl betroffen waren.

Der Unfall im Atomkraftwerk jährt sich am 26. April dieses Jahres zum 19. Mal. Vergessen aber ist die Katastrophe im Ausland nicht – ungewöhnlich angesichts der Fülle von Horrorereignissen, die seither weltweit passierten und die schnell von anderen Schrecken verdrängt worden sind. Dass es mit Tschernobyl anders aussieht, liegt auch an den reisenden Kindern, die von einer Vielzahl von privaten Initiativen betreut werden.

Engagierte Bürger, glückliche Kinder, Hilfe mit langem Atem – ein Vorzeigemodell? „Jein“, sagt Sebastian Pflugbeil, Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz und Mitglied im Vorstand des Deutschen Verbandes für Tschernobylhilfe (DVTH): „Die Idee, Kinder einzuladen, ist sozusagen bei mir auf dem Sofa entstanden. Es war damals eine sympathische Geste, es gab eine Welle der Hilfsbereitschaft.“ Die ersten Busse voller Kinder rollten 1990. „Die nächsten Gruppen hatten schon Bestelllisten dabei mit den Dingen, die sie mitbringen sollten.“ Schnell habe sich ein Schwarzmarkt entwickelt, erinnert sich Pflugbeil: Oft durften nicht die wirklich Bedürftigen reisen, sondern einflussreiche Eltern setzen ihre Kinder auf die Reiselisten. Den deutschen Vereinen und Gasteltern wurden überzogene Rechnungen für die Reisen präsentiert: „Eine Fahrkarte kostete 20 Mark, in Einzelfällen wurden aber 300 Mark für ein Ticket verlangt.“

Um die kleinen Hilfsvereine, die oft von Gasteltern der „Tschernobyl-Kinder“ gegründet wurden, gegen Tricks und Schwierigkeiten mit Behörden auf belarussischer Seite abzuschirmen, gründete sich der DVTH 1992 als Dachorganisation. Rund 70 Gruppen gehören ihm heute an. Tatsächlich organisieren aber viel mehr kleine Vereine Reisen aus und Hilfstransporte nach Belarus.

Dass auch 19 Jahre nach dem Unglück Hilfe notwendig ist, weiß der DVTH genau – aber vierwöchige Urlaubstouren für einige wenige Kinder sind nicht das beste Mittel: „Es ist viel sinnvoller, das Gesundheitswesen drüben fähig zu machen, mit den besonderen Problemen fertig zu werden, die Tschernobyl hervorgerufen hat“, sagt Pflugbeil. „In Belarus gibt es viele gute Erholungsgebiete, wo man Kindern schöne Ferien gestalten kann. Für das gleiche Kapital, das für eine Reise ins Ausland aufgewendet wird, könnte man viel mehr Kinder im eigenen Land betreuen. Aber man kriegt in Deutschland kein Geld gesammelt für Kinderferien in Belarus.“

Zu dem finanziellen Problem tritt ein weiteres: Belarus, am stärksten vom Atomunfall betroffen, wird vom Diktator Lukaschenko beherrscht, und der sieht es nicht gern, dass der Nachwuchs des bröckelnden sozialistischen Paradieses massenhaft ins Ausland reist. Eine Rede des Alleinherrschers in diesem Jahr deutete darauf hin, den Kontakt ganz zu unterbinden. So weit werde es wohl nicht kommen, meint Pflugbeil. Dennoch sieht er die Gefahr weiterer Einschränkungen: „Einige Organisationen versuchen, unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe die politischen Verhältnisse zu ändern.“ Das könne für alle Hilfsgruppen die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen erschweren.

Fallen die Kinderreisen weg, vergeht vielleicht das Interesse an Belarus: „Der Vorteil liegt darin, dass über diesen Weg Projekte im Land erleichtert werden“, sagt Pflugbeil. Esther Geißlinger