Im Vatikan herrscht jetzt der Ernstfall

Ein Quadrumvirat teilt sich die Aufgaben des kranken, verstummten Papstes und springt als Stellvertreter ein

Klar und fest war die Stimme, die am Sonntag in Rom auf dem Petersplatz die Litanei zum Beginn der Papstmesse anstimmte. Nur: Es war nicht die Stimme des Papstes. Für ihn war Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano eingesprungen. Und dass der wichtigste Protagonist fehlte, wurde den 70.000 Menschen auf dem Platz, den Millionen, die in 74 Ländern weltweit die TV-Übertragung verfolgten, noch nachdrücklicher dadurch klar gemacht, dass das Fenster der Papstwohnung offen stand, aber zunächst niemand dort oben saß.

Damit ging in Rom eine Osterwoche zu Ende, die durchgängig von diesem Widerspruch geprägt war: Die sieben Tage vom Palm- zum Ostersonntag halten wie kaum eine andere Zeit im liturgischen Jahr eine Fülle von Pflichtterminen für den Heiligen Vater bereit, doch keinen einzigen konnte Johannes Paul II. wahrnehmen. Stattdessen musste die erste Riege der Kurienkardinäle ran. Den Palmsonntag übernahm Camillo Ruini, Vikar des Papstes für die Diözese Rom, am Gründonnerstag war Giovanni Battista Re an der Reihe, der Präfekt der Bischofskongregation, die Via Crucis am Karfreitag zelebrierte Joseph Ratzinger, und den Schluss machte am Sonntag Angelo Sodano.

Zweierlei wurde so deutlich: Die katholische Kirche hat den Ernstfall, über dessen Eintreten während des letzten Krankenhausaufenthaltes Johannes Pauls II. spekuliert wurde: Sie hat einen hinfälligen, verstummten Papst. Sie hat aber auch einen Modus Vivendi gefunden: Die wichtigsten Männer des Vatikan teilen sich die Aufgaben des Papstes und springen als Stellvertreter des Stellvertreters Christi ein.

Doch ein zentrales Problem bleibt, wie am Sonntag die Blicke der Zehntausenden zum leeren Fenster zeigten: Die Gläubigen kommen nicht wegen Sodano auf den Petersplatz – sie kommen wegen Johannes Paul II. Er ist der Superstar, und er ist es nicht zuletzt dank seiner Gabe zur direkten Kommunikation mit dem Kirchenvolk geworden.

So ist es womöglich ganz in seinem Sinne, dass die Kirche nun auch sein Verstummen zum Kommunikationsereignis macht. Am Freitag bei der Via Crucis vor dem Kolosseum war er zwar nicht da. Aber er saß in seiner Privatkapelle und verfolgte die Passion Christi am Fernseher – dieser päpstliche Fernsehabend wiederum wurde auf Großleinwänden entlang der Via Crucis übertragen. Die Betenden konnten einem wenn auch bloß von hinten über die Schulter gefilmten Papst dabei zusehen, wie er ihnen zusah, wie sie ihm zusahen. Und auch am Sonntag schuf das leere Fenster während der Messe Spannung: Kommt er? Redet er? Er kam, und er wollte reden, wenigstens kurz den Segen sprechen. Doch die Gläubigen vernahmen nur schweres, röchelndes Atmen – und konnten sich davon überzeugen, dass das Reden der Kurie von der angeblichen „Rekonvaleszenz“ des Papstes mit dem realen Gesundheitszustand des von schwerem Leiden Gezeichneten wenig zu tun hat. MICHAEL BRAUN