BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN
: Hüben wie drüben – eine Katastrophe

Gegen Atom-Anschläge bin ich gerüstet. Gegen den 41. Geburtstag und die gescheiterte Ehe aber hilft kein Sandsack

Es gibt Sätze, die sollte man sich gut überlegen, bevor man sie sagt. „Es war nicht alles schlecht in der DDR“ ist so einer. Warum? Weil er überflüssig wie ein Kropf ist. Wieso? Weil natürlich nicht alles schlecht war. Gut zum Beispiel war ihr Ende. Warum noch? Weil es viele bekloppte Sachen im Osten gab, die nicht dadurch besser werden, dass es sie auch im Westen gibt.

Katastrophenschutz ist so ein Fall. Hüben wie drüben herrschte und herrscht die Ansicht vor, selbst einer Atomkatastrophe oder Massenvernichtungswaffen locker die Stirn bieten zu können. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA hat die Bundesregierung versprochen, ein Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe einzurichten. Sie hat Wort gehalten. Vor wenigen Wochen nahm die Behörde ihre verantwortungsvolle Arbeit auf. Nachtigall, ick hör dir trapsen.

Es ist allein eine Katastrophe, wie viel Papier das Amt mit Sitz in der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn opfert, um über Verhaltensregeln zu informieren. Auch die Tipps für den Notfall sind gelinde gesagt eine Katastrophe. Bei radioaktiver Kontamination soll ich mich „möglichst quer zur Windrichtung bewegen“, durch einen Atemschutz atmen und Fenster und Türen schließen. Auf die Idee muss man erst mal kommen! Man lässt die radioaktiven Strahlen einfach nicht rein. Da können sie klingeln und klopfen wie sie wollen. Ich bin gerettet! Jippie!!

Im Osten haben wir uns nicht allein auf geschlossene Türen und Fenster verlassen. Wir sollten radioaktiver Strahlung entschlossen mit feuchten Sandsäcken entgegentreten, die wir vor die Türen und Fenster legen sollten. Das brachte mir vor über zwanzig Jahren mein Chemielehrer im schulischen Zivilschutzunterricht in Sachsen bei. Er hatte für die obligatorische Katastrophenunterweisung seinen weißen Schulkittel gegen eine grüne Tarnuniform eingetauscht. Das verlieh ihm eine gewisse Authentizität und gab mir das Gefühl, dass jemand, der klamottenmäßig super auf den Ernstfall vorbereitet ist, auch sonst genau weiß, was zu tun ist.

Zur Veranschaulichung der Gefahr zeigte uns der uniformierte Lehrer einen wahnsinnig großen Atompilz auf einer Wandtafel. Als er unsere schreckgeweiteten Augen sah, nahm er uns in breitestem Sächsisch die Angst vor der „addomaren“ Bedrohung – und holte eine andere Wandtafel hervor. Darauf waren akkurat angeordnete Sandsäcke abgebildet. Soll er doch kommen, der Addompilz, jubelte ich, ich steck ihn in den Sack und Ruhe ist.

Meine Naivität von damals ist längst einem kühlen Realismus gewichen. Als die Mauer fiel, haben die Katastrophenschützer Ost und West auf der ganzen Linie versagt. Es herrschte ein heilloses Chaos, alle rannten wie aufgescheuchte Hühner durch die Gegend und ich musste sehen, wo ich blieb. Seitdem vergeht kaum ein Tag ohne Katastrophe: Überziehung des Kontos, Scheitern der Ehe, hohe Zigarettenpreise, der 41. Geburtstag. Und niemand ist da, der mir sagt, wie ich mich schützen kann.

Das Katastrophenbundesamt bietet mir lediglich Hilfe an, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist und nur noch die Flucht als Ausweg bleibt. Dazu gibt es das Faltblatt „Selbstschutz-Information Notgepäck“. Darin werde ich aufgeklärt, dass ich bei einer Evakuierung schnell ein Notgepäck zusammenstellen muss und es nur so umfangreich sein soll, dass ich es ohne fremde Hilfe auch längere Zeit tragen kann.

Die Behörde schätzt das Bedrohungsszenarium erschreckend richtig ein. Ich lebe jetzt in einer Ellenbogengesellschaft, in der sich jeder selbst der Nächste ist, Katastrophen hin oder her. Deshalb raten die Experten: „Zweckmäßigstes Transportmittel ist ein Rucksack, weil er dem Träger die Hände freilässt.“ Ein Rucksack! Das ist genial! Ich dumme Gans hatte geplant, meine sieben Sachen mit einem Supermarkt-Einkaufswagen durch die verstrahlte Gegend zu schieben, in dem ich auch meine Sandsäcke bequem transportieren könnte. Nun denke ich noch mal darüber nach. Sonst gibt es wirklich eine Gaddasdrofe.

Fragen zum Selbstschutz? kolumne@taz.de Morgen: Dieter Baumann LAUFEN